Die Herrin der Kathedrale
conflavere me, cunctos Christe tuere – Christus schütze all jene, die mich haben gießen lassen«, sprach Erzbischof Humfried und zitierte damit die Inschrift der beiden bronzenen Klangkörper. »Und so sollen die Glocken nicht nur jene beschützen, die sie haben gießen lassen, sondern alle, die den Bau der Kathedrale vorangebracht haben. Am Jüngsten Tag«, fuhr der Magdeburger fort und blickte von den Gewerkmeistern zu den Kämpfern ins Langhaus, »werdet Ihr dafür die Belohnung erhalten.«
Nach diesen Worten stimmten die Benediktinerinnen einen Choral an. Ihr Gesang hatte den Kämpfern einst ihren Mut zurückgegeben, heute stiftete er Sicherheit und Vergessen. Das Vergessen abgehackter Hände, von Oberarmstümpfen mit getränkten Hautlappen und eiternder Füße – die Rache König Heinrichs für Graf Odos Erbschaftsansprüche. Mehr noch: Der Gesang bestätigte die Hoffnung der Kämpfer und der Bewohner des Burgbergs, dass schlussendlich Frieden herrschen würde.
Als Erzbischof Humfried vor den gläsernen Schrein trat, in den er am Morgen das Kästchen aus der Kammer des Bischofs eingelassen hatte, beobachtete Uta, wie Hildewards Kiefer zu mahlen begannen.
»Nun lasst uns diese Kathedrale weihen. Am heutigen Tag geben wir der Kathedrale den Schleier der heiligen Plantilla zurück.« Auf ein Zeichen des Magdeburger Erzbischofs hin erhob sich einer der Domherren aus dem Chorgestühl, gleichzeitig trat Bischof Hildeward vor.
»Die Gemeinde ist der Leib Christi«, formten Hildewards Lippen, als der Domherr vor ihm zum Stehen kam und die Hand nach dem Schlüsselbund für den gläsernen Schrein ausstreckte. »Wer das für das Mahl nicht bedenkt, zieht Gottes Strafe auf sich. Deswegen sind so viele krank und schwach und sterben früh.« Mit zitternder Hand holte Hildeward die Schlüssel unter seinem Gewand hervor und übergab sie, den Blick dabei starr auf den Glasschrein gerichtet.
Um die zehn Schlösser, die das fußdicke Glas des Deckels auf die schmiedeeiserne Umfassung pressten, zu öffnen, kniete der Domherr nieder. Es knackte, als die Schlösser nacheinander aufsprangen. Zwei weitere Domherren schlugen den Deckel des Schreins zurück und beugten sich in das Erdloch hinab, um nach den Seilen zu greifen, an denen das Kästchen herabgelassen worden war. Dann zogen sie es hoch und übergaben es Erzbischof Humfried. Der hielt es unter den gespannten Blicken aller Anwesenden in Richtung der Kämpfer und schlug den Deckel auf.
Ein Raunen ging durch die Reihen.
»Euer Exzellenz!«, rief Esiko. »Eure Kiste ist leer!« Erzbischof Humfried schaute in das Kästchen und ließ es gleich darauf fassungslos sinken.
Bischof Hildeward schlug erschrocken die Hände vor das Gesicht. »Deswegen sind so viele krank und schwach und sterben früh!«, jammerte er und deutete auf Uta, die entsetzt auf das Kästchen blickte. Sie sah, wie sich der Magdeburger Erzbischof mit fragendem Blick dem Kaiserpaar zuwandte, das sich in diesem Moment jedoch auch nur ratlos anzuschauen vermochte. Aus dem Langhaus drangen aufgeregte Stimmen, die immer lauter wurden.
Falk von Xanten hingegen grinste vor sich hin, so dass seine makellosen Zähne zum Vorschein kamen. Zufrieden schaute er zum Chorgestühl hinauf, in dem sich gerade Erzbischof Aribo von Mainz erhob. »Kaiserliche Hoheit«, ergriff der das Wort. »Ohne den Schleier können wir dieses Kirchenhaus nicht unter den Schutz Gottes stellen. Die Weihe kann nicht vollzogen werden!«
Während Maurermeister Joachim ängstlich die Schulter seiner Frau umfasste, schlug sich Schmied Werner erschrocken die Hände vor den Mund. Uta war wie gelähmt. Wie konnte das sein? Sollten sie sich zehn Jahre umsonst gemüht haben? Und wenn die Weihe nun doch nicht stattfand, würde dann der Bischofssitz nach Zeitz zurückverlegt werden? Im nächsten Moment spürte sie Esikos Blick auf sich, der nun ebenfalls, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, vortrat. Ruhig verneigte er sich vor Kaiser und Kaiserin sowie vor den erzbischöflichen Exzellenzen im Chorgestühl und baute sich vor den Kämpfern auf. »Wie kann ein Schleier abhandenkommen, der von zehn Schlössern beschützt wird? Oder seht Ihr irgendwo Spuren eines Diebstahles?«
Betroffene Stille herrschte.
Uta wurde heiß und kalt zugleich, als darauf Erzbischof Aribo aus dem Chorgestühl vor den Schrein trat und Falk von Xanten bedeutete, diesen nach Spuren von Gewalt abzusuchen. Der Werkmeister trat aus dem Querhaus in den Ostchor und verneigte
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