Die Herrin der Kathedrale
erreichen wir das Stift am sichersten.« Notburga schaute betroffen nach unten, hob den Kopf keinen Herzschlag später aber ruckartig wieder an, als sie Utas Blick auf sich spürte.
»Knechte, reitet voran und lasst die Pfalz für mich öffnen! Zündet Eure Späne an! Man soll erkennen, wer hier einreitet!«, befahl Adelheid und hielt auf die Mauer zu, die neben den Wirtschafts- und Wohnhäusern der kaiserlichen Hofanlage auch die Pfalzkapelle Sankt Wiperti umschloss. Eine solche Ansammlung von Gebäuden und Mauern überstieg alles, was Uta bisher gesehen hatte.
Der Aufgang zum Stift führte die Reisenden über Kopfsteinpflaster zu einem großen steinernen Torbogen, der rechts an einem Felsen endete und einige Fuß hoch vor ihnen aufstieg. Utas Blick wanderte den Sandsteinfelsen hinauf, der in eine Mauer überging, welche wiederum in luftiger Höhe ein Gebäude hervorbrachte, das dem Stift entweder als Lagerraum oder gar zu Wohnzwecken dienen musste. Wie geschmeidig die Mauer aus dem Felsen herauswächst, dachte sie, einer Pflanze ähnlich, die seit Jahr und Tag mit dem Boden verwurzelt ist.
Am Ende des Torweges angekommen, befahl Äbtissin Adelheid abzusitzen. Das Tor zum Stiftshof wurde geöffnet, und die Schutzmannen zogen die Pferde hinein. Uta blickte sich neugierig um. Neben dem prächtigen Stift Quedlinburg erschien ihr Gernrode auf einmal klein und unscheinbar. Sie erkannte die Stiftskirche, die, anders als in Gernrode, den Westabschluss der U-förmig angeordneten Gebäude bildete. Neben der Kirche bot ihr die offene Seite der Anlage einen atemberaubenden Blick auf die umliegenden bewaldeten Hügel. Die flossen in die samtenen Farben der Dämmerung getaucht sanft ineinander über.
Da trat Notburga neben Uta und beäugte sie erst eine Weile von der Seite, bevor sie sagte: »Schwester Uta, Ihr schaut, als ob Ihr nicht wüsstet, dass in diesem Kloster bereits Kaiser, Könige und Bischöfe zu Gast waren!«
Uta trat einen Schritt von der Mitschwester weg. »Wenn Ihr es wünscht, Schwester Notburga, zähle ich Euch gerne die Kopien der ausgestellten Urkunden mit Datum, Zweck und Beurkundungszeugen auf, die von den hohen Besuchen zeugen.«
Zumindest einige davon hatten sich unter den Bücherstapeln in der Gernroder Schreibkammer befunden.
»Paahh!«, schnaubte Notburga. »Als ob Ihr etwas über Könige und Kaiser wüsstet!«
Schwester Jelenka, Äbtissin Adelheids Vertreterin in Quedlinburg, begrüßte die Gäste und bot ihnen eine Erfrischung an. Danach führte Adelheid ihre Gernroder Sanctimonialen in das Kellergewölbe unter den Wohngebäuden der Stiftsdamen. Dabei hatte Uta ihren Blick über jede der Quedlinburger Sanctimonialen gleiten lassen, die ihnen begegnet war. Die Mädchen trugen die gleichen schwarz-weißen Doppelgewänder und verzichteten auf den Schleier, auch vernahm sie hin und wieder das bekannte Glöckchengeklingel.
Äbtissin Adelheid wies ihnen das hintere der drei Felsenzimmer zu, in dem zwei Betten standen. Utas Blick wanderte zuerst zum beeindruckenden Gewölbe hinauf. Sie sah, dass es im Deckenbereich von steinernen Säulen getragen wurde und dass die Fensternischen direkt aus dem Felsgestein herausgeschlagen waren. Das hatte es auf dem Ballenstedter Burgberg nicht gegeben.
»Ich erwarte, dass Ihr Euch meiner würdig erweist, während wir gemeinsam hier im Stift weilen, und mir keinerlei Schande bereitet.«
»Selbstverständlich, Äbtissin Adelheid«, versicherte Notburga mit einem breiten Lächeln.
Utas Antwort fiel authentischer aus. »Ja, Äbtissin Adelheid.«
»Ich gehe jetzt zu Bett.« Vom Aufsetzen des Lilienszepters begleitet, stieg die Äbtissin die Stufen aus dem Felsenkeller hinauf. »Morgen steht mir ein anstrengender Tag bevor.«
Mit einem erschöpften Stöhnen ließ sich Notburga auf die vordere Bettstatt fallen. »Dass Ihr mir ja nicht schnarcht, Schwester.«
Statt einer Antwort trat Uta vor die Felsenwand und streifte mit den Fingern über das sandige Gestein. Wenn es stimmte, was sie gelesen hatte, befand sich in der nahen Stiftskirche die Grablege des ersten sächsischen Königspaares: König Heinrichs I. und der heiligen Mathilde, der Tante von Äbtissin Hathui. Beim nächsten Gedanken, der der hiesigen Bibliothek und ihren möglichen Schätzen über Heilkunde und Königsgerichte galt, drangen bereits grunzende Atemgeräusche von Notburgas Bettstatt zu ihr herüber.
Nach dem Morgengebet und einer Schale Hirsebrei folgten die Gernroder Schreiberinnen der
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