Die Herrin der Kathedrale
Weg zur Äbtissin. An deren Arbeitskammer angekommen, klopfte sie.
»Ja, bitte?«, fragte Adelheid.
Uta öffnete die Tür einen Spalt. »Ich versprach, Euch die Mitschrift noch an diesem Tag vorzulegen.«
»Zu dieser späten Stunde?« Missmutig schob die Äbtissin ein Silbertablett mit allerlei Gesottenem beiseite und bat sie einzutreten.
Unaufgefordert schritt Uta bis vor den Tisch und überreichte Adelheid die neu erstellte Mitschrift. Die Äbtissin las und schaute widerstrebend auf. Dann las sie weiter, um einen Augenblick später ihre Sanctimoniale erneut zu fixieren. »Das nächste Mal bitte gleich so!«, meinte sie schließlich.
Uta atmete erleichtert auf. Ein Dankeschön hatte sie sowieso nicht erwartet. »Werte Äbtissin, erlaubt mir, mich nun zu Bett zu begeben.«
Die Äbtissin nickte kaum merklich, ließ die Pergamente sinken und starrte dem seltsamen Mädchen mit dem Schleier verdrossen hinterher.
Vom langen Schreiben schmerzte ihr der Nacken. Die Äbtissinnen mit einer Handbewegung aus ihren Gedanken verbannend, betrat Uta den Stiftshof. Sie reckte Arme und Beine und sog die kühle Herbstluft tief in ihre Lungen ein. Dann blickte sie in den dunkelblauen Abendhimmel und von dort aus weiter zu den Turmspitzen der Stiftskirche. »Das erste Kaiserpaar!«, flüsterte sie fasziniert.
Uta betrat die Stiftskirche. Dort war keine Menschenseele zu sehen. Lediglich auf dem Altar im hohen Chor brannten zwei Kerzen. Wie himmlisch ruhig es hier ist, dachte sie und trat vor den Chor, wo sie niederkniete und das Kreuzzeichen machte. Als sie die Augen wieder öffnete und sich umschaute, sah sie den Treppenzugang zur Krypta, aus der ein Geruch von Weihrauch und Minze zu ihr hinaufwehte. Sie erhob sich und stieg die Stufen hinab.
Das Gewölbe der Krypta wurde von kräftigen Pfeilern getragen. Nur ein Kienspan erhellte den heiligen Ort. Sofort steuerte Uta auf die Kaisergräber zu, zwei vor dem Altar eingelassene Steinsärge, auf denen ein gemeißeltes Kreuz prangte.
»Die heilige Mathilde«, flüsterte Uta und übersetzte die Inschrift auf dem rechten Sarg. »In der zweiten Märzwoche starb Königin Mathilde, die hier ruht und deren Seele ewige Ruhe erhalten möge.«
Sie folgte dem Minzeduft, der sie vom Kryptaaltar wegführte. Mit jedem Schritt wuchs ihre innere Ruhe, und sie ließ Notburga, die Äbtissinnen und Sanctimonialen, Kiele und Glöckchen weit hinter sich. An der Nordwestecke der Krypta entdeckte sie einen weiteren Abgang. Etwas dort unten zog sie über die mit Schutt beladene Treppe weiter hinab.
»Ist das schön«, hauchte Uta, als sie in der Mitte eines kleinen, hufeisenförmig vertieften Raumes angelangt war. Das musste der Raum sein, von dem Äbtissin Adelheid während der letzten Mittagstafel berichtet hatte, dass er zugeschüttet werden sollte. Uta zählte an der in Hufeisenform gebogenen Wand acht mit Ornamenten verzierte Nischen, in denen jeweils ein Talglicht in einer flachen Tonschale und ein handgroßes Bronzegefäß mit schwelenden Minzeblättchen aufgestellt waren. Als Nächstes tastete sie das Gewölbe mit den Augen ab. Am anderen Ende des Raumes erkannte sie an der Decke den Unterboden der königlichen Steinsärge aus der oberen Krypta, deren rechteckige Form bis auf Kopfhöhe in den Raum hinabragte. Welch beeindruckender Ort des Gedenkens, dachte sie und ging auf die steinernen Särge zu, kniete unterhalb von ihnen auf dem sandigen Boden nieder und faltete die Hände.
»Herrgott aller Gnade schütze meine Lieben. Lass den Seelen der Mutter und der Äbtissin Hathui Freude angedeihen. Auf dass sie im Himmel der Herrlichkeit nahe sind.« Von der Intimität des Ortes bewegt, zog sie sich den Schleier vom Kopf und genoss in dieser Haltung die Vorstellung, wie der Herrgott seine Hand schützend über die geliebten Menschen hielt und die Mutter ihr zulächelte.
»Euer Haar gleicht dem wunderschönen Braun meiner Stute«, erklang eine Stimme hinter ihr.
Noch benommen von der Intensität des Augenblicks, öffnete Uta die Augen.
»Es schimmert im Feuerschein wie dunkles Gold«, sagte die Stimme weiter.
Den Blick auf die Steinsärge gehaftet, erhob sich Uta und drehte sich langsam in Richtung der Stimme. »Hoheit, ich wusste nicht, dass Ihr …«, brachte sie zögerlich hervor und griff nach dem schützenden Schleier auf dem Boden.
»Der kleine Herzog«, Gisela von Schwaben zeigte auf ihren Bauch, »lässt mich keinen Schlaf finden. Er kämpft schon, bevor er überhaupt geboren ist. So
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