Die Herrin der Kathedrale
sind wir beide einfach dem betörenden Duft nach unten gefolgt.« Die Herzogin lächelte. Während sie den Schleier band, betrachtete Uta die Frau vor sich, die wohl keine zehn Jahre älter war als sie selbst. Auch in dem schwachen Talglicht wurde ihre Gestalt von dem langen blonden Haar wie von einem Kleid aus Sonnenstrahlen gerahmt.
»Ihr seid die einzige Stiftsdame hier, die einen Schleier trägt«, sagte die Herzogin nach einer Weile.
Uta nickte bestätigend.
»Das finde ich bemerkenswert.«
Vielleicht war es die Magie dieses Ortes, vielleicht auch die Zuneigung, die Uta veranlasste, sich der Fremden ein Stück weit zu offenbaren. »Der Schleier hält meine Gedanken an Äbtissin Hathui wach. Sie stand mir sehr nahe.«
»Dann gehört Ihr dem Stift in Gernrode an.« Herzogin Gisela lächelte. »Ihr habt recht, Hathui Billung war eine bemerkenswerte Frau.«
»Ihr kanntet sie, Hoheit?«, fragte Uta verwundert.
Gisela legte die Hand auf ihren gewölbten Bauch. »Ich hatte vor vier Sommern auf einem Hoftag Kaiser Heinrichs die Ehre, sie kennenzulernen.«
Im Gedenken an die Verstorbene drehte Uta den Kopf zu den Steinsärgen. »Sie war sehr warmherzig und lehrte uns, aus Büchern zu lernen.«
»War sie es, die Euch beigebracht hat, so schnell zu schreiben? Ich habe noch keinen ähnlich lautlosen und zugleich so flinken Kiel wie den Euren erlebt.«
Uta nickte. Für einen Herzschlag lang stockte ihr der Atem.
Das war der Herzogin aufgefallen?
Gisela von Schwaben schien ihr die Verwunderung im Gesicht abzulesen. »Dieser Ort scheint mir ein ganz besonderer zu sein. Gerade habe ich mich entschlossen, morgen vor meiner Abreise hier in aller Ruhe mein Frühgebet zu verrichten.«
Uta nickte zustimmend und entsann sich der Disputation des ersten Gesprächstags. »Hoheit?«, fragte sie vorsichtig.
Die Herzogin nickte ihr aufmunternd zu.
»Ihr erwähntet gegenüber den Äbtissinnen, dass Euer und Eures Gemahl erster gemeinsamer Vorfahre der ostfränkische König Heinrich I. war?«
»So ist es«, bestätigte Gisela.
Unter dem verwunderten Blick der Herzogin ging Uta in die Knie. Mit dem Finger begann sie, Heinrichs Namen in den sandigen Boden zu schreiben. »Würdet Ihr mir Eure weitere Ahnenreihe nennen?«
»Meine Ahnenlinie führt über die mütterliche Linie zurück zu König Heinrich I. Meine Mutter Geberga von Burgund ging aus der Ehe Mathildes und König Konrads von Burgund hervor. Meine Großmutter Mathilde war die Tochter einer weiteren Geberga aus dem Burgundischen, die wiederum aus der zweiten Ehe König Heinrichs stammte.«
Unter dem aufmerksamen Blick der Herzogin schrieb Uta die genannten Namen in den Sand und verband sie über senkrecht gezogene Striche miteinander. »Und die Eures Gatten, Hoheit?«
»Herzog Konrad ist der Sohn Heinrichs I., der wiederum der Sohn Ottos von Worms ist. Otto von Worms war über den Herzog von Lothringen der Enkel Ottos I. Und Letzterer war wiederum der Sohn des ostfränkischen Heinrich.« Uta hatte zeitgleich die genannten Namen der Herzöge neben die Ahnenlinie der Herzogin notiert.
Die Herzogin beugte sich über das Sandgemälde. »Ad usque ad septimam generationem.«
Uta nickte und erklärte: »Die römische und von Abt Hrabanus Maurus bevorzugte Zählweise berechnet die Anzahl der Zeugungsschritte, der generationem, von einem Ehepartner zum gemeinsamen Vorfahren hinauf und von dort wieder zum anderen Ehepartner hinunter.« Uta deutete mit dem Finger auf jeden Namen. »Bei dieser Art der Zählung zähle ich für Euren Gatten fünf Zeugungsschritte bis zum gemeinsamen Vorfahren König Heinrich hinauf.«
Herzogin Gisela nickte.
»Wenn ich weitergehe, von König Heinrich bis zu Euch hinab, Hoheit«, Utas Zeigefinger war nun am rechten Ende des Stammbaumes angelangt, »zähle ich vier weitere, macht also insgesamt neun Zeugungsschritte.«
»Demnach sind der Herzog und ich lediglich im neunten Grade verwandt«, schlussfolgerte diese und sah Uta dabei nach wie vor unverwandt an.
»Versucht doch, Euch auf diese römische Zählweise zu berufen.« Uta erhob sich und hoffte, dass es auch ihr selbst bald nützen würde, dass mehrere Antworten auf ein und dieselbe Frage als gültig angesehen wurden. Es musste einfach einen Weg geben, wie sie ohne ihren Vater Gerechtigkeit einfordern konnte. »Die römische Zählweise wird in den Büchern, die ich dazu einsehen durfte, am häufigsten verwendet.«
»Aber warum hält Kaiser Heinrich II . an seiner Aussage dann so
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