Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
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Odo von Cluny stand auf dem Glockenturm seiner Abtei, blickte über die frühherbstliche Landschaft und sog die Morgenluft ein. In Burgund hatte die Weinlese gerade begonnen, und der beißende Geruch der Keltern zog über die sanften Hügel, die ihm seit seiner Kindheit vertraut waren. Wenn er an diese frühen Jahre zurückdachte, schienen ihm die Blätter immer klein und hellgrün gewesen zu sein, die Gräser saftig, die Zweige der Sträucher und Bäume voller Blüten. Heute leuchteten die Blätter gelb, die Gräser waren welk vom trockenen Spätsommer, und das Obst fiel überreif von den schwer beladenen Zweigen. Ihm kam es schon seit einer Weile vor, als nehme diese Zeit den größten Teil des Jahres ein.
Odo seufzte nie, daher unterließ er es auch diesmal. Stattdessen zog er den Brief aus seiner Kutte und las ihn sicherlich zum hundertsten Mal, seit er ihn vor einigen Monaten erhalten hatte. Er war von Marocia. Immer, wenn er mit dieser Frau in Kontakt kam, wurde er wachsam wie ein burgundischer Feldhase, und immer, wenn er ihre Worte hörte oder las, spürte er darin eine teuflische Versuchung, ohne eine solche aber jemals zu erkennen. Diesmal war es nicht anders. Sicher, Marocias Vorschlag beinhaltete viel Geheimnistuerei und kalkulierte Diplomatie, ja sogar eine gewisse Form von schäbiger Hinterlist, aber bei Erfolg führte er . . .
»Ehrwürdiger Vater!«, rief einer der Novizen zu ihm hinauf und tapste mit seinen Sandalen quer durch den Acker des Gartens.
»Du sollst die weißen Rüben ernten, nicht zertrampeln!«, rief Odo hinunter. »Sonst haben wir nichts für die Suppe am Abend.«
»Aber, Vater, seht!« Der Novize deutete auf einen der niedrigen, wellenförmigen Hügel, und als Odo der angezeigten Richtung folgte, sah er einen Reiter, der sich dem Kloster näherte. »Alberic«, hauchte Odo. »Endlich.«
Er verstaute den Brief sorgsam in seiner Kutte und verließ den Glockenturm in der gespannten Erwartung einer ungewohnten Aufgabe.
»Noch einmal willkommen«, sagte Abt Odo feierlich. Er breitete seine Arme wie zum Segen aus und bot König Hugo am rechten Ende der schlichten Tafel, dem Prinzeps von Rom an deren linken Ende Platz an. Die beiden einflussreichsten Männer Italiens hatten sich in der Abtei von Cluny zusammengefunden, um zu verhandeln.
»Ich verstehe nicht, weshalb wir uns ausgerechnet hier treffen mussten«, knurrte Hugo und ließ seinen Blick kurz im schmucklosen Saal schweifen. Die Abtei von Cluny wirkte mit ihren vielen rechten Winkeln, kahlen Säulen und nackten Steinen architektonisch streng, aber gerade dadurch erhaben. Selbst Hugo sprach hier leiser als gewöhnlich, und genau das störte ihn.
»Weil«, erwiderte Alberic, »du die Angewohnheit hast, friedliche Treffen mit Gewalt enden zu lassen. Dieser Teil Burgunds gehört zum Westfrankenreich, und das stellt sicher, dass du keine Soldaten im Busch versteckt hast.«
Hugo fuhr hoch. »Du kleiner, unverschämter . . .«
»Bitte, bitte«, ging Odo energisch dazwischen. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, die beiden Kontrahenten zu Verhandlungen zu bewegen und ihn als Vermittler zu akzeptieren. Vor allem Hugo hatte sich lange gesträubt, glaubte er doch auch nach vier Jahren noch immer, dass seine regelmäßigen Belagerungen der Ewigen Stadt ihm früher oder später Erfolg bringen würden. Alberic hingegen sah sich hinter der Aurelianischen Mauer und seinem aufgeblähten römischen Stolz sicher. Die ganze Christenheit blickte zwischenzeitlich ebenso gespannt wie amüsiert auf den Streit zwischen dem Beinahe-Kaiser und dem neunzehnjährigen Herrn von Rom. Umso berühmter würden die Abtei von Cluny und ihr Abt werden, gelänge Odo hier ein Vermittlungserfolg.
Doch die Situation war verfahren. Hugo hielt noch immer das Patrimonium besetzt, und wann immer er es einrichten konnte, schnitt er Rom von der Getreideversorgung ab. Alberic war militärisch hoffnungslos unterlegen. Doch seit dem Tod seines Halbbruders, der sich trotzig geweigert hatte, ihm zu Diensten zu sein, verfügte er über den Papst als Waffe. Leo VII., dem Prinzeps ergeben, hatte König Hugo exkommuniziert und drohte nun sogar mit dem Interdikt über seine Kronländer Italien und die beiden Burgunds. Kein Geistlicher dürfte dort noch Sakramente erteilen, es gäbe keine Heiraten mehr, keine Taufen, keine Bestattungen in geweihter Erde, und das könnte Adel und Volk schnell gegen ihren König aufbringen. Bei Licht betrachtet trennte die beiden nicht viel von
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