Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
Gefangenschaft, schrieb sie am – rückblickend gesehen – schwersten Kapitel ihres Lebens, der Episode im Kloster Bobbio, wo sie sich in Hugo verliebt hatte. Sie saß an einem Tisch auf der Gartenplattform, und die Gedanken diktierten ihre Feder.
Liebte ich ihn wirklich? Oder war ich bloß in seine Vehemenz vernarrt, in seine Neigung, das Unmögliche anzustreben? Ich hielt ihn für außergewöhnlich, und das war er auch – wie jeder, der seine Grenzen verloren hat. Liebe ist die Glut, die noch wärmt, wenn die züngelnden Flammen der Leidenschaft längst erloschen sind. So gesehen, habe ich nur einen Mann geliebt und liebe ihn noch immer . . .
Die Glocken der kleinen Kirche am anderen Tiberufer unterbrachen Marocias Gedankenflug. Dann, vier oder fünf Atemzüge später, begannen auch weiter entfernte Kirchen zu läuten, schließlich hallte das mächtige Dröhnen der schweren Petersglocke über die Ewige Stadt. Marocia erhob sich zögerlich. Es war Mittwoch, kein Feiertag, hellichter Nachmittag; es gab keinen Grund, weshalb alle Glocken läuten sollten, es sei denn . . .
Ihr schrecklicher Verdacht bestätigte sich. Auf den Straßen fielen die Menschen der Tradition gemäß auf die Knie, als sei das Jüngste Gericht gekommen, und von überall schallte der Ruf zum Himmel: »Der Papst ist tot, der Papst ist tot!«
Marocia trauerte um das erste Kind, das sie überlebt hatte. Clemens war nur fünfundzwanzig Jahre alt geworden. Seine Kränklichkeit hatte sie immer schon an ihren Bruder Leon erinnert. Zu der körperlichen Schwäche waren Depressionen hinzugekommen, unter denen schon sein Vater gelitten hatte und die wohl damit zu tun hatten, dass beide inneren Stolz und innere Würde besaßen, aber unfähig waren, diese auch zu leben. Der Medicus, der ihr die offizielle Bestätigung brachte, nannte glaubhaft eine Lungenschwäche als Todesursache, aber Marocia wusste, dass ihr Sohn im Grunde an Schwermut und Verzweiflung gestorben war.
In Marocias Trauer mischte sich aber noch etwas anderes: Melancholie. Mit Clemens’ Tod war nun die letzte Berührung mit Sergius verloren gegangen, einem Abschnitt ihres Lebens, der bereits ein Vierteljahrhundert zurücklag.
Marocia fühlte sich alt, als sie vor dem Sarkophag ihres Sohnes in der Krypta der Lateranbasilika stand. Alberic besaß das erstaunliche Feingefühl, seinen ungeliebten Halbbruder gleich neben Sergius III. bestatten zu lassen, so dass Vater und Sohn, die im Leben nicht unähnlich waren, auch im Tode nah beisammen lagen. Ansonsten jedoch blieb Alberics Miene während der ganzen Zeremonie steif und unergründlich. Marocia überkam mehrfach der Wunsch, ihrem Sohn zu danken, dass er sie an der Grablegung teilnehmen ließ, und sie suchte ständig seine Augen, doch er gönnte ihr nicht einen einzigen Blick.
Als der für das nächste Pontifikat vorgesehene Kardinal Leo den Ritus beendet hatte, als der letzte Weihrauch verzogen und das letzte Amen verklungen war, wandte sich gleichzeitig mit den anderen Trauergästen auch Marocia ab, um in ihr Gefängnis zurückzukehren. Nun hob endlich auch Alberic seine Augen und sah ihr nach, wie sie würdevoll in ihrem weiten weißsamtenen Kleid davonschritt. Doch er rief sie nicht.
Zurück in der Engelsburg wies Marocia die Zofe an, alle Vorhänge zu schließen. Sie ließ sich langsam wie eine alte Frau auf einem Sessel nieder und starrte in die nahezu vollkommene Dunkelheit des Raumes. Eine Stunde lang kämpfte sie gegen die Tränen an. Nein, sie wollte, durfte dem nicht nachgeben. Zu oft hatte sie in den letzten Jahren feuchte Augen bekommen, bei Hugos Treulosigkeit, Alberics Härte . . . Auch die erst wenige Wochen alte Nachricht vom Tode Guidos hatte Marocia schwer mitgenommen. Aber einmal
musste
der Erschütterung und der Verzweiflung Einhalt geboten werden, sonst, das spürte sie ganz deutlich, würde sie zugrunde gehen.
Kurz, bevor die Tränen gesiegt hätten, stand Marocia mit einem Ruck auf, riss die dunklen Vorhänge herunter, griff sich einen Kandelaber und schleuderte ihn in den Spiegel, zerriss die zarten Stoffe, die ihr Bett bedeckten, zerschmetterte die Flakons mit den blumigen Düften darin, schlug alles klein, was ihr in die Finger kam.
Eine der Wachen, vom Lärm alarmiert, stürzte ins Zimmer.
»Ist Euch wohl?«, fragte er sie angesichts der Verwüstung, die er vorfand.
»Ja«, antwortete sie erleichtert. »Jetzt ist mir wieder wohl. Und die Welt wird hören, dass es mich noch gibt.«
34
Anno Domini
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