Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
etwas, wie ein Tintenfleck, der langsam seinen Weg nach unten nimmt.
»Ein Heer«, flüsterte sie. Die Nebelschwaden gaben nun die ganze Masse der heranrückenden Armee frei. Marocia versuchte, aus dem Gebaren der Waffenträger etwas über dessen Zugehörigkeit zu erfahren. War es Freund oder Feind, der sich dort näherte? Oder gab es diese Kategorien in ihrer Lage überhaupt? Auf den Gängen klapperten die Rüstungen der Waffenträger, Pferde wurden gesattelt, Mauern besetzt. Von ihrem Fenster aus beobachtete Marocia, wie der herbeigeholte Liudprand von Cremona mühselig die Treppe bis zu den Zinnen hinaufstieg und in die Ferne blickte. Endlich war eines von mehreren Wappen zu erkennen, die dem Heerwurm vorausgetragen wurden.
Marocia stockte der Atem. Sie kannte es, das Kreuz in der Kugel. Sie hatte es zum ersten Mal kurz nach ihrer Freilassung aus der Engelsburg gesehen. Es konnte die Rettung ihres Lebens bedeuten, zugleich aber die Zerstörung ihres Lebenswerks. Gleich daneben jedoch tauchte ein weiteres Wappen aus dem Dunst auf, und nun verstand Marocia die Verwirrung der Soldaten, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie die Tore öffnen oder verrammeln sollten. Der schwarze Adler – auch dieses Wappen war Marocia bekannt. Es war ebenso Teil der Geschichte jener Jahre, die von so viel Abschied geprägt waren und deren Himmel wie aus Asche schien.
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Anno Domini 939
Die edle Gästeschaft, die in Alberics Villa geladen war, hatte nur Augen für die freigelassene Senatrix und ihren spektakulären Aufzug. Alle hatten erwartet, eine von der Gefangenschaft gebeugte, gealterte und nun ob der Befreiung dankbare Frau anzutreffen. Stattdessen mussten sie erleben, wie Marocia, gewandet wie eine Königin, lebensfroh wie eine junge Katze und aufrecht wie eine Siegerin, ihnen mit altgewohnter Spottmiene entgegentrat. Ihr goldfarbenes Brokatkleid war ein greller Sonnenstrahl in den Augen der Gäste, und die prunkvollen bronzefarbenen Topase um ihren Hals funkelten frech und herausfordernd.
»Sicher beginnt heute Euer zweites Leben«, sagten die Leute mit bitterer Höflichkeit zu ihr, und sie antwortete lächelnd: »Wovon sprecht ihr? Ich habe dieses erste Leben noch nicht zur Hälfte genossen, und es wird süßer mit jedem Tag.« Diese Frau tat so, als sei sie eben von einem erfrischenden zweistündigen Ausritt in die Campagna zurückgekehrt, und nicht von einem achtjährigen Arrest.
Die Blicke galten also mehrheitlich ihr, obwohl doch zwei andere Personen im Mittelpunkt des Abends stehen sollten. Der eine war Odo von Cluny. Er hatte die Reform der römischen Klöster abgeschlossen und würde morgen einem Ruf des westfränkischen Königs in die Normandie folgen, wo er weitere Klöster unterstellt bekommen sollte. Eifrige Zungen wussten hinter vorgehaltener Hand eine andere Ursache der plötzlichen Abreise Odos zu berichten: Der Prinzeps habe dem Abt von Cluny die Gunst entzogen. Doch davon war an jenem Abend nichts zu spüren. Alberics Abschiedsworte waren voll von Respekt und Ehrfurcht gegenüber dem alten Lehrer, der in Anbetracht seines Alters vermutlich nie wieder den Weg nach Rom gehen würde.
Bei Odo stand ein Mann, der neben ihm der wichtigste Berater Alberics war. Suidger, der ehemalige Abt des rheinischen Klosters Selz, war wegen seines Rufes als diplomatisches Genie eigens von Alberic nach Rom geholt worden und trug nun an seinem einfachen Gewand den Gürtel des
primicerius
. »Ich bin froh, dass sie wieder draußen ist«, flüsterte Suidger von Selz, faltete die Hände auf seinem mächtigen Bauch und beobachtete befriedigt Marocias Bad in der Gästeschaft. »Heute Abend, ehrwürdiger Odo, kann die Welt scheinbar nichts erschüttern, aber wir wissen beide, wie trügerisch diese Stimmung ist. König Hugo ist alles andere als begeistert darüber, dass Rom sich mit Byzanz vermählt und seine eigene Dynastie außen vor bleibt. Dazu kommt, dass Alberic ihm noch immer die Kaiserkrönung verweigert, obwohl doch mittlerweile ein römischer Erbe geboren wurde.«
Odo zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Der König hat in Hochburgund genug zu tun, wo der Adel gegen ihn rebelliert. Außerdem«– er warf Suidger einen Seitenblick zu und legte eine leichte Schärfe in seine Worte –, »Ihr wollt doch damit nicht etwa andeuten, dass Alberic nicht auch ohne die Hilfe seiner Mutter mit Hugo fertig würde?«
Suidger blieb ruhig. »Meine Loyalität zum Prinzeps ist unbestritten. Ich frage mich bloß, was für den
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