Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
Stundenkerze lag in ihren letzten Zuckungen. Es musste weit nach Mitternacht sein, dachte Marocia, hob sanft den Kopf ihrer jüngsten Enkelin an, die es sich auf ihrem Bein gemütlich gemacht hatte, und stahl sich auf Zehenspitzen davon.
Langsam tastete sie sich durch die kalten und dunklen Gänge der Engelsburg. Zwar hingen alle zehn Schritte Fackeln an den Wänden, aber Marocia hatte nicht den Zündstein zur Hand, um sie zu entflammen. Durch einige der nur kopfgroßen Fenster fiel schräg ein wenig des silbrigen Mondlichts ein, das musste reichen. An ihrem Schlafgemach angekommen, zögerte sie, es zu betreten. Sie hatte plötzlich so ein Gefühl . . .
Marocia ging weiter. Die Gänge waren leer. Alle Wachen wurden an den Zinnen und Erkern gebraucht oder erholten sich in ihren Quartieren. Die Engelsburg schien für einen Moment wieder das zu sein, was sie für Marocia vor dreißig Jahren gewesen war: ein stummes Gefängnis. Am anderen Ende eines Ganges sah sie eine Gestalt. Sie trug nur ein langes weißes Hemd. Marocia hielt einen Augenblick inne. Die Gestalt wankte, stützte sich mit den Händen an den Mauern ab. Marocia nahm ihren Schritt wieder auf, wurde schneller. Ein Name formte sich auf den Lippen, und gleich darauf rief sie entsetzt: »Blanca!«
Sie kam gerade rechtzeitig, um ihre Schwester aufzufangen. »Ich wollte gerade nach dir sehen. Warum, um Himmels willen, bist du aufgestanden?«
Blanca blickte sie an, aber sie sprach nicht. Marocia legte sich Blancas Arm um ihren Nacken und schleppte sie zurück in das Gemach. Der Medicus, der eigentlich vor Ort sein sollte, war nicht da. Marocia entzündete sofort zwei Fackeln, und nun erst erkannte sie Blancas Zustand. Dass sie zum ersten Mal seit Tagen bei Bewusstsein war, war nicht mal ein schwacher Trost, sondern im Gegenteil, es schien bedrohlich. Ihr Gesicht war aufgebläht und glühte, die Lippen waren gesprungen. Marocia schrie zur Türe hinaus um Hilfe, aber ihr Ruf verhallte ungehört. Sie eilte zu einer Schüssel, tauchte ein Tuch in das zu allem Unglück nur lauwarme Wasser und legte es ihrer Schwester über die Stirn.
Blanca zitterte unter Krämpfen.
»Muss ich jetzt . . . sterben?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Marocia fast zornig. »Nein, das wirst du nicht. Du wirst hundert Jahre alt.«
Ein geradezu unheimlich helles Lächeln glitt wie ein Streiflicht über Blancas Gesicht. »Du Liebe. Wolltest du . . . nicht immer hundert werden?«
Marocia kniff die Lippen zusammen. Auch Blanca konnte sie unmöglich von dem Urteil erzählen. »Ich gehe dorthin, wo du hingehst. Nirgendwo anders.«
»Ver. . . versprochen?«
Marocia drückte Blancas Hand. »Versprochen!«
Nach einer Weile des Schweigens schlief Blanca wieder ein. Marocia öffnete den Fensterladen, um frische Luft hereinzulassen, gab einem plötzlichen Impuls nach und sah in den grauenden Himmel hinauf. »Was willst du noch von mir haben?«, schrie sie. »Ich habe mit jeder Währung gezahlt, die ich hatte. Du hast mein Blut genommen, meine Macht, meine Liebe. Du hast es geschafft, dass ich mich vor meinen Enkelinnen schäme. Dass ich meinen Sohn hasse. Meine Verbündeten fürchte. Mein Leben in Zweifel ziehe. Wenn du es willst, dieses Leben, dann nimm es dir. Nimm dir meine hundert Jahre, und spare sie dir für jemand anderen auf. Hörst du, ich will sie nicht mehr.«
Aus dem dämmernden Morgen kam keine Antwort. Nebelschwaden stiegen auf. Mal verhüllten sie den Blick in den freien Norden, mal gaben sie ihn kurz frei. Die wenigen Sterne, die noch zu sehen waren, schienen zu verglimmen, um nie mehr wiederzukommen. Marocia spürte keine Kälte, obwohl diese alle anderen Gegenstände erfasste. Das Holz der Möbel knackte, das Feuer flackerte, und unten im Hof schlugen die Waffenträger kreuzweise die Arme um ihre Körper. Weißer, hart gefrorener Reif überzog Laden und Sims. Ihr jedoch war warm. Nie, auch nicht in ihren schlimmsten Zeiten, hatte diese seltsame Wärme, dieser letzte Rest von Wohlgefühl sie verlassen.
Fast zornig darüber griff sie nach dem Laden, um ihn wieder zu schließen. Doch plötzlich bemerkte sie Unruhe im Hof. Die Waffenträger standen von ihren Feuern auf, die Wachen schrien unverständlich herum und deuteten nach Norden. Marocias Blick durchsuchte den Nebel. Da war nichts. Die öde Ebene wurde nur vom halb zugefrorenen Tiber und der dünnen, geraden Linie der Via Flaminia unterbrochen. Marocia kniff ihre Augen zusammen. Auf dieser Linie bewegte sich doch
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