Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
sie sehr gut verstanden hatte, und das genügte Marocia vorerst.
Als sie den Raum mit dem erstrebten Dokument in Händen verließ, sah sie Crescentius an einer Wand lehnen. Er hatte sich offensichtlich von den körperlichen Schmerzen erholt, aber sie konnte spüren, wie er innerlich vibrierte. Er wollte an ihr vorbeisehen, aber es gelang ihm nicht.
»Na, habt Ihr jetzt, was Ihr wolltet?«, brummte er. »Senatrix auf Lebenszeit.«
»Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst«, sagte sie versöhnlich. »Fünf, sechs Male in meinem Leben ging es mir ebenso. Immer, wenn ich dachte, am Ziel zu sein, kam jemand oder etwas und nahm es mir weg. Nun, vielleicht nicht mittels eines solchen Tiefschlages, der ja nur bei Männern seine Wirkung tut, aber . . .«
Sie lächelte, um ihm zu zeigen, dass sie einen Scherz hatte machen wollen, aber seine Miene blieb unbewegt. Zuerst wollte sie noch weiter auf ihn einreden, ihn zur Vernunft bringen oder irgendwie auf ihre Seite ziehen, aber plötzlich spürte sie eine Müdigkeit in sich. Sie war nicht körperlich. Es war die Versuchung, dieses Kind, das sie zum ersten Mal in der Gefangenschaft der Engelsburg und ein weiteres Mal in Bari aufgegeben hatte, erneut fallen zu lassen.
Vielleicht spürte Crescentius etwas davon, denn einen Augenblick lang gab er seine Reserve auf und studierte das Gesicht seiner Mutter, ja, ein wenig schien er sich sogar vor irgendetwas zu fürchten. Er hob die Hand, um ihre Schultern zu berühren, aber Marocia sah es nicht, wandte sich seufzend von ihm ab und stieg die Stufen des modrigen Treppenhauses hinab.
Lange musste Octavian die ihm abverlangte Rolle als bereitwilliger und würdiger Anwärter auf den päpstlichen Thron nicht spielen. Bereits wenige Wochen nach Marocias Besuch im Transtiberim starb Papst Agapet II. Marocia versicherte sich sogleich der Unterstützung der deutschfreundlichen Kardinäle, deren Zahl seit einiger Zeit von Woche zu Woche gewachsen war und die sich von der bewährten Senatrix und ihrem scheinbar geläuterten Enkel eine solide Politik ohne Abenteuer versprachen. Ein Favorit Berengars von Ivrea, des friaulischen Markgrafen, der sich nach wie vor um größeren Einfluss in Italien bemühte, verfügte in der Kurie über keine Mehrheit. So lösten die meisten Kardinäle ihre dem verstorbenen Prinzeps gegebenen Versprechen ein und wählten Octavian zum Papst.
Marocia verfolgte von einer Tribüne, wie dem Siebzehnjährigen, der sich den Papstnamen Johannes XII. gab, die Tiara aufgesetzt, das Prunkgewand umgelegt und schließlich der Stab Petri in die Hand gegeben wurde. In einer Ansprache an die versammelten Prälaten und weltlichen Würdenträger verkündete er einige unspektakuläre Kirchenreformen und Bauvorhaben und nahm zu den wichtigsten politischen Fragen der Zeit Stellung. Nachdem er König Otto I. zum wiederholten Mal mit großem Lob erwähnt hatte, neigte Suidger sich der neben ihm stehenden Marocia zu und flüsterte: »Wenn er diese brillante Rede selber geschrieben hat, will ich auf der Stelle vom Blitz getroffen werden.«
»Dieses Schicksal bleibt Euch erspart, ehrwürdiger Suidger«, erwiderte Marocia amüsiert. »Ich habe sie letzte Nacht verfasst, die Tinte auf dem Papier dürfte noch feucht sein.«
»Und?«, fragte Suidger neugierig. »Hat Octavian sich gesträubt, die Rede Wort für Wort zu übernehmen?«
»Im Gegenteil, er war mir dankbar für meine Hilfe.«
»So seid Ihr es nun also wieder geworden«, stellte er fest.
»Was?«
»Die Herrin der Päpste.« Suidger von Selz gab einen erleichterten Seufzer von sich, faltete die Hände auf seinem Bauch und widmete sich mit einem entspannten, friedvollen Lächeln wieder der Ansprache. Marocias Gedanken hingegen hielten sich nicht mit solchen imaginären Titeln auf, die nur die Dichter beflügelten, aber politisch wenig bedeuteten. Ihr war klar, dass Crescentius in Ganymed eine machtvolle Waffe besaß, die stärker sein konnte als alle von Octavian unterzeichneten Dokumente, alle verwandtschaftliche Zuneigung ihres Enkels, alle seine Vernunft und Moral. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Crescentius diese Waffe einsetzen würde, und vor allem, wofür. Die Herrin des Papstes zu sein, das hieß im Falle Octavians, einen täglichen Kampf führen zu müssen.
In das kleine Zimmer im Transtiberim drang kein Sonnenstrahl, obwohl der Märzhimmel fast wolkenlos war. Vom einzigen Fenster aus blickte Crescentius auf die gegenüberliegende Hauswand, die, obwohl auf der
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