Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
selten widersprochen, aber ebenso selten zugestimmt. Darüber hatte Theodora sich nie Gedanken gemacht, aber wenn sie jetzt alle ihre Vermutungen und freien Interpretationen über Marocias Verhalten in der Vergangenheit abzog, blieb dieses Mädchen, diese junge Frau, tatsächlich ein Buch voller unbeschriebener Blätter. War sie das Luder, für das Johannes sie hielt?
Abwechselnd blickte sie Johannes, Saxo und Desiderius an. Ein Liebestoller und ein blasser Sekretär waren der einen Meinung, der törichte
primicerius
einer anderen. Sollte sie Marocia wieder in die Villa beordern, oder war das genau das, was Johannes erreichen wollte?
Theodora ging langsam auf dem dicken Teppich auf und ab. Ihr Blick ging ruhelos umher. »Meine Herren«, sagte sie schließlich, »ich denke, dass ich meine liebe Tochter zu lange vernachlässigt habe. Ich werde ihr«– sie räusperte sich –»eine Lektion erteilen.«
Der Morgennebel in der Senke östlich des Mons Caelius war vollständig verschwunden. Von den Fenstern ihrer Gemächer aus hatte Marocia jetzt einen herrlichen Blick auf die Wiesen rund um die antiken Caracalla-Thermen, wo derzeit ein Schwarm Störche auf seinem Zug nach Norden unter großem Geklapper Rast machte. Lange betrachtete Marocia bei geöffneten Fenstern das schwarzweiße Spektakel, und nicht einmal eine starke Böe, die den Brief in ihrer Hand heftig flattern ließ, riss sie aus ihrer Versunkenheit.
Marocia!
Ich habe Dich nicht in den Lateran entlassen, damit Du Dich darin aufführst wie die Königin von Saba. Ich habe Grund anzunehmen, dass Du Deine Rolle als Tochter und Geliebte falsch verstehst und daher strapazierst. Ich wünsche Dein Erscheinen in der Villa Sirene, um Dir einiges zu verdeutlichen. Die Kutsche erwartet Dich am Sonnabend zum Mittagsschlag an der Lateranbasilika.
Theodora, Senatrix
Theodoras Zeilen lösten widersprüchliche Gefühle in Marocia aus. Zum einen spürte sie bei aller Abneigung gegen ihre Mutter noch einen gehörigen Respekt. Für eine kurze Zeit hatte sie geglaubt, sich von ihr freigemacht zu haben, und musste nun feststellen, dass sie noch immer eine innere Unterordnung verspürte. Das machte sie wütend. Zum anderen aber stachelte gerade dieses Gefühl sie auf, noch verwegener zu werden, noch aufrührerischer.
Doch da war noch etwas anderes, ein Gefühl jenseits der Rivalität zu ihrer Mutter. Als Sergius in ihrer ersten gemeinsamen Nacht die Arme um sie geschlungen, als er sie an sich gedrückt, als er das Gesicht in ihre langen Haare getaucht hatte, war sie sich noch nie zuvor so gut aufgehoben vorgekommen. Jedoch, er vermochte diese Geborgenheit nur nachts zu schenken, im Schutz der Dunkelheit, wo ihn niemand beobachten konnte. Bei Licht war er der Sklave Theodoras. Vor lauter Enttäuschung darüber hielt sie ihn seit dieser ersten gemeinsamen Nacht wieder auf Distanz, musste sich jedoch eingestehen, dass es ihr nicht leicht fiel. In jener Nacht war etwas in ihr geweckt worden. Sie wusste nicht, was, aber sie spürte, dass ihr mittlerweile etwas an Sergius lag, und sie konnte es nicht ertragen, dass dieser Mann ein Geschöpf ihrer Mutter war.
Es klopfte. Als Sergius eintrat, empfing sie ihn vom Fenster aus mit einem vertraulichen Senken und Heben der Lider. Sie hielt ihm wortlos den Brief hin. Während sein Blick über die Zeilen flog, spielte sie mit dem zartblauen Vorhang. Die Farbe wiederholte sich überall in ihrem Gemach, in dem Bezug ihres Bettes, in den Flakons auf dem Spiegeltisch, in der Malerei der Krüge und Kelche, in der Ornamentik eines Gobelins, der fast eine ganze Wand bedeckte. Sergius, der ihr anfangs ein anderes, viel üppiger eingerichtetes Gemach zugedacht hatte, erfüllte ihr seit ihrem Auftritt im Thronsaal des Lateran jeden Wunsch. Aber dingliche Geschenke kosteten Sergius nichts. Mit dem, was sie sich heute von ihm erbitten würde, war das völlig anders.
»Theodora«, konstatierte Sergius und gab ihr den Brief zurück. »Sie müsste nicht einmal unterschreiben, und doch würde man ihren Stil aus hundert anderen sofort erkennen. Aber vom barschen Ton abgesehen – der Brief ist nicht folgenschwer. Sie will dich sehen. Wundert dich das? Seit deinem Einzug im Lateran habt ihr euch nicht gesprochen.«
Marocia ging gemächlich zu einem Sekretär, vertiefte sich in ein Potpourri aus Kirschen und Beeren, die an diesem Morgen aus Süditalien eingetroffen waren, und nahm einzelne Früchte zwischen die Finger, um sie gleich darauf wieder fallen zu
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