Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
verloren sie ein Stückchen mehr ihrer Kraft.
Ähnliches fühlte Marocia seit einiger Zeit. Als sie damals in den Lateran gekommen war, hatte sie mit dem Schlimmsten gerechnet, aber stattdessen Geborgenheit, Sicherheit und musische Beschäftigung gefunden, und nun wartete sogar die Mutterrolle auf sie. Das alles war wunderbar, aber es machte sie auch müde. An manchen Tagen verspürte sie nach dem Aufwachen die Versuchung, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. In ihrem Leben passierte fast nichts, und gerade dieser Umstand kam ihr wie die Nebelwand eines schleichenden Giftes vor. Damianes ständiges Geplapper und die indiskreten Fragen, die sie immerzu von ihr gestellt bekam – pikante Details über ihre Beziehung zu Sergius interessierten sie besonders –, waren seit Wochen die einzigen Höhepunkte in einer ansonsten tristen Reihe immer gleicher Stunden und Tage. Ja, sie liebte Damiane wie die gute Freundin, die sie in ihrer Kindheit nie gehabt hatte. Aber auch sie konnte ihr nicht das geben, was sie brauchte. Wenn sie nur wüsste, was das war.
Alles schien Marocia mit einem Mal zu stören: die wohlige Behaglichkeit der schweren Möbel, der dampfende Kräutertee neben ihr, die Decke über ihrem Schoß. Wie an einem ekligen Lumpen zupfte sie an ihrem steingrauen Morgengewand herum, das nur durch einen Seidengürtel um die Taille zusammengehalten wurde. Ziellos blickte sie im Raum umher, über die Wandteppiche mit den Darstellungen ferner Gegenden oder bedeutender Ereignisse, über Kleider und Stoffe, alles das, was sie ihr seidenes Gefängnis nannte. Ihre Finger krabbelten spinnengleich auf den Lehnen vor und zurück. Schließlich stöhnte sie stimmlos, griff sich das Buch und las von neuem in Sophokles’ Drama »Elektra«.
»Doch nein, niemals
verstumme meine Totenklage
und der bittre Grabgesang . . .«
Mit einem lauten Knall klappte Marocia den brüchigen Einband zu. »Ich halte das nicht länger aus«, stieß sie hervor und schreckte Damiane damit auf. »Ich muss hier raus.«
»Raus?«
»Soweit ich weiß, gibt es eine Welt da draußen.«
Damiane legte ihr Stickzeug nieder. »Das letzte Mal ist Euch der Ausflug nicht bekommen. Und jetzt, in diesem Zustand?«
»Ja, gerade wegen des Zustandes, Damiane. Sergius belagert mich ständig, fragt mich mindestens zehnmal am Tag, wie es mir geht, ob ich Schmerzen habe, warum ich Schmerzen habe oder warum ich keine Schmerzen habe. Oh, verstehe mich nicht falsch, Damiane, seine rücksichtsvolle Art freut mich einerseits – aber andererseits treibt sie mich in den Wahnsinn.«
»Ich . . .« Damiane stotterte. Sie floh Marocias Blick und ließ die feine hölzerne Nadel unverdrossen durch den weißen Wollstoff gleiten. »Ich meine, Ihr solltet nicht gehen.«
Marocia wusste, dass Damiane es gut mit ihr meinte. Der letzte Ausflug war fast zu einem Debakel geworden, aber das hatte an ihrer unsinnigen Angst gelegen. Überall meinte sie Johannes gesehen zu haben, was natürlich nur Einbildung gewesen war. Und die Begegnung mit Pater Bernard würde sich nicht wiederholen, denn der Gefährte ihrer Kindheit war vor wenigen Wochen vom Wahnsinn befallen gestorben. Man hatte ihn, der wohl wie kaum ein anderer Priester stets aufrichtig Gott gedient hatte, nicht einmal in geweihter Erde bestatten wollen, da er – wie sogar anerkannte Ärzte meinten – vom Teufel besessen gewesen sei. Doch Marocia hatte bei Sergius erfolgreich dagegen interveniert.
Immerhin, etwas Gutes war auch bei dem ersten Ausflug herausgekommen. Ein unsinniges Gebot war gefallen, und das Leben im Lateran war erträglicher geworden.
Marocia stand auf. »Ich habe es satt, mich von Angst und Sorge einengen zu lassen. Wo ist man schon sicher, frage ich dich.«
»Gewiss, Herrin, ich meine bloß. . .«
Sie wartete den Kommentar Damianes nicht ab. »Die Kirche
Sancta Crux in Jerusallemis
ist nicht weit, und jeder behauptet, es bringe Glück, die Reliquien zu berühren.«
»Ich dachte, Ihr glaubt nicht daran.«
Sie blinzelte ihrer Zofe zu. »Natürlich nicht. Aber das ist doch ein prächtiger Vorwand, findest du nicht?«
Die Zofe ließ ihr Stickzeug seufzend niedersinken. »Dann nehmt bitte wenigstens Wachen zum Schutz mit.«
Marocia lächelte Damiane dankbar an und streichelte ihr den Zopf entlang. »Gute Freundin. Wie sehr du dich immer um mich sorgst. Also schön. Ich kleide mich alleine an. Gehe du bitte inzwischen zu Sergius, gib ihm Nachricht, und besorge zwei Wachen. Wir treffen uns draußen vor dem
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