Die Herrin der Rosen - Historischer Roman
»Alle lügen mich an!« Ich sprang auf und lief vor ihr auf und ab. »Keiner kann schnell genug verschwinden, wenn ich erscheine. Wenn ich sie bitte zu bleiben, beobachten sie mich wie die Maus die Schlange. Ich bin in den Häusern der Frauen, denen ich bei der Niederkunft beistehen will, nicht mehr willkommen! Ich habe keine Freunde. Mein Gemahl ist seit einem Monat nicht mehr nach Hause gekommen, hat nicht einmal geschrieben! Etwas ist geschehen, und ich muss wissen, was!« Ich packte sie an den Schultern. »Du musst es mir sagen, Ursula, oder ich werde wahnsinnig! Was habe ich mir zuschulden kommen lassen?«
Ursula wandte den Blick ab und wurde noch bleicher, und ich bemerkte, dass sie zitterte.
»Was ist es? Was ist so schrecklich, Ursula?«
Pures Elend sprach aus dem Blick, mit dem sie mich ansah. »Können wir an den Fluss gehen?«
Ich hatte eine entsetzliche Angst, als ich mich umdrehte und vorausging. Wir schritten den Korridor mit den zarten Deckenbalken entlang, die Treppe hinunter, durch das Tor und über die gefrorene, schneefleckige Erde zum Ufer, wo wir so viele vergnügte Stunden im Spiel mit den Kindern verbracht hatten. Ich setzte mich auf eine der Steinbänke und zurrte meine Röcke fester um mich, um Platz für Ursula zu schaffen. Vom anderen Ufer, das von einer langen Reihe Lärchen gesäumt wurde, die im Wind seufzten, beobachteten uns Schafe; die Kirchenglocken im Dorf läuteten.
Endlich sprach Ursula. »Du fragtest mich, was du dir hast zuschulden kommen lassen, liebe Isobel. Du hast dir nichts vorzuwerfen, gar nichts, denn du bist die freundlichste, gütigste Herrin, die man sich wünschen kann.« Sie schwieg, und ich wartete. »Es geht vielmehr um deinen Onkel, den Earl of Worcester …«
Ich biss mir auf die Lippe, bis sie im Takt mit meinem Puls pochte.
»Ich erfuhr es in York. Ich hatte gehofft, es dir ersparen zu können. Du solltest es niemals erfahren, denn du kannst nichts daran ändern.«
»Dennoch muss ich es wissen.«
»Ja, das begreife ich jetzt.« Sie rang nach Atem. »Es gab eine Seeschlacht. Mylord Warwick entkam nach Calais, aber Anthony Woodville nahm dreiundzwanzig seiner Männer gefangen, die er deinem Onkel übergab. Der Earl of Worcester …« Ihre Stimme versagte.
Meine Hand zitterte, als ich über mein Kleid strich.
»Sie waren von höherem Stand, daher nahm man an, dass mit ihnen weniger grob verfahren würde.«
Ich schloss die Augen.
»Der Earl of Worcester richtete sie hin, indem er ihnen Pfähle in die Hintern treiben ließ, bis sie zu den Mündern herauskamen. Sie nennen ihn den ›Schlächter von England‹, weil er sie …«
Der Magen drehte sich mir um, und mir wurde speiübel. Mit beiden Händen bedeckte ich meinen Mund und sank von der Bank ans Flussufer. Dort übergab ich mich so heftig, dass die Enten quakend wegflatterten.
Ursula kam an meine Seite, kniete sich zu mir und umfing sanft meine Schultern. Sie half mir auf und zurück auf die Bank. Dort saß ich und rang nach Atem. »Agnes … der Cousin ihres Mannes … wurde er …?«
»Sie glaubte, dass er unter ihnen gewesen sein könnte … aber, bei Gott, dem Allmächtigen, er war es nicht. Er ist wohlbehalten bei dem Earl of Northumberland. Sie erhielt heute Morgen Nachricht von ihm.«
Wieder schloss ich die Augen. Dank sei Gott für kleine Gnaden!, betete ich stumm. Dann wurde mir wieder übel. Aber was ist mit den anderen?, dachte ich. Was hatten sie jemals verbrochen, einen so qualvollen Tod zu verdienen? Und im nächsten Moment wollte mir ein Gedanke nicht aus dem Kopf weichen, der schrill wie Zimbeln schrie. Ich bin die Nichte desjenigen, den sie den »Schlächter von England« nennen, die Nichte des »Schlächters von England« …
Ich krümmte mich und hielt mir die Hände über die Ohren, um die entsetzlichen Klänge auszusperren, doch es half nichts. Ich bin die Nichte des Pfählers …
»Du hättest mich nicht zwingen dürfen, es dir zu erzählen, denn was kann es nützen, das zu wissen?«, flüsterte Ursula. »Ich fürchte, du wirst keinen Schlaf mehr finden.«
Sie hatte recht. Der Schlaf wollte mich bestenfalls in einer von vierundzwanzig Stunden übermannen, und essen konnte ich erst recht nicht. Mein Herz benahm sich seltsamer denn je, schlug mal wild in meiner Brust, mal wollte es sich kaum regen. Zum Glück krampfte es nicht mehr wie zuvor, denn das hatte sehr geschmerzt. Nur leider schmerzte mich nichts mehr als das Wissen, dass sogar John mir die Schuld gab, mich mied
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