Die Herrin des Labyrints
die Rampe nach unten. Wir suchten uns ein halbschattiges Plätzchen und plauderten über ein paar belanglose Themen, bis Frau Seebruk schließlich meinte: »Na, was ist denn nun der eigentliche Anlass für Ihren Besuch? Sie wollen doch nicht nur mit einer alten Dame im Park plauschen?«
»Es ist aber hübsch, mit Ihnen zu plauschen, so entspannend. Aber Sie haben natürlich recht, ich habe etwas auf dem Herzen. Sind Sie bereit, eine ziemlich spannende Geschichte zu hören?«
»Aber nichts lieber als das, meine Liebe. Erzählen Sie, ich werde mit erstaunten Ausrufen nicht sparen.«
Das tat sie wirklich nicht, bis ich schließlich sagte: »So, und jetzt muss ich eigentlich nur noch etwas herausfinden, von dem Gita wohl annahm, dass es für mich offensichtlich sein müsste. Ich habe aber leider überhaupt keine Ahnung, was sie damit gemeint hat.«
»Du lieber Himmel, was für eine Geschichte! Dann sind Sie also wirklich die Enkelin meiner lieben Freundin. Kind, wie schön!« Die alte Dame wirkte gerührt und nahm meine Hände in die ihren. »Wenn ich helfen kann, werde ich es versuchen. Typisch Gita, so ein Geheimnis mit dem Rätsel anzustellen. Was für Fragen haben Sie denn?«
»Nun, vor allem scheint es sich um Gitas Lebensanschauung zu handeln, vielleicht ihren Glauben oder eine ganz bestimmte Einstellung, die Dr. Wentz, ihr Notar, als etwas exzentrisch eingestuft hat. Mir ist nichts Exzentrisches an Gita aufgefallen …«
Frau Seebruk schnaubte verächtlich: »Dr. Wentz betrachtet schon einen sehnsuchtsvollen Blick zum Mond als exzentrisch. Der Mann besteht nur aus Paragraphenstaub. Verlässlich als Jurist, aber als Mensch absolut phantasielos. Gita hat sich für alle möglichen Sachen interessiert, sie hat sich früher mal mit den alten Philosophen herumgeschlagen, was ich selbst in der Tat als exzentrisch empfunden habe, denn die Spitzfindigkeiten über Sein oder Nichtsein haben mich zeit meines Lebens reichlich kalt gelassen. Ich bin, und bald werde ich nicht mehr sein. So ist das nun mal.«
»Darüber haben wir zum Beispiel nie gesprochen. Das wusste ich auch nicht.«
»Es hilft Ihnen auch nicht weiter. Lassen Sie mich nachdenken.« Nach einer Weile schweigsamen Beisammensitzens nickte Frau Seebruk dann und berichtete: »Manche ihrer Freunde waren natürlich ziemliche Spinner. Georg war Freimaurer und kam manchmal mit sonderbaren Ansichten an, über die Gita immer lachte. Agnes war anfangs noch ganz normal, bekam aber dann auf einmal Durchgaben von einem alten Meister oder so was und machte uns alle verrückt mit ihren düsteren Prophezeiungen. Gita hat sie immer wieder auf den Teppich geholt, wenn sie zu sehr in höhere Sphären entschwinden wollte. Und Franzi, ach du liebes bisschen, ja! Franzi war die wiedergeborene Nofretete oder so ein Blödsinn.«
»Hat es Zweck, dass ich mich mit diesen Leuten noch mal unterhalte?«
»Wenn Sie gut im Gläserrücken sind oder, wie heißt das soschön neudeutsch, ›channeln‹ können. Die drei weilen schon geraume Zeit in anderen Welten.«
Die alte Dame war erfrischend.
»Gut, sollte ich je dazu kommen, werde ich sie von Ihnen grüßen. Aber wenn ich das recht verstehe, hatte Gita intensiven Kontakt mit Esoterikern verschiedener Stilrichtungen. Hat sie eine davon bevorzugt?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sie war mehr belustigt von diesen Vorstellungen. Aber sie kannte sich verflixt gut aus in dieser Materie. Man merkte das immer, wenn sie in Diskussionen verstrickt wurde. Da ging es oft ziemlich heftig zu. Aber das ist schon Jahre her, und an Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Sagt Ihnen diese Münze etwas?«, fragte ich und holte die Fotos aus der Handtasche.
Der Gesichtsausdruck der alten Dame war sehenswert. Es war ein reines Entsetzen, als hätte ich ihr ein peinliches Nacktfoto statt dem einer einfachen alten Münze in die Hand gedrückt. Doch sie langte danach, und nach einem verlegenen Hüsteln sagte sie: »O ja, die habe ich schon mal bei Gita gesehen. Ich kann mich sogar genau daran erinnern. Wir waren noch sehr jung, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Oh, was beneide ich die heutigen jungen Mädchen! Sie wissen, was mit ihnen passiert, wenn sie allmählich zur Frau werden. Aber wir blieben in Unkenntnis und standen plötzlich ein paar unangenehmen Erfahrungen gegenüber. Gita war die Einzige, die es etwas besser hatte, ihre Mutter hielt nichts von solcher Prüderie und hatte ihre Tochter auf die ganzen körperlichen und geistigen
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