Die Herrin des Labyrints
du … Naja, Vater, ich weiß jetzt, dass du kein Feigling bist. Bitte verzeih mir diese Unterstellung.«
»Natürlich, gerne!«
Das kam genauso trocken und nüchtern wie die Bemerkungen zuvor, so dass Patrick erst einen Moment brauchte, um den Sinn zu verstehen. Dann aber nickte er auf ähnlich kühle Weise und setzte sich wortlos auf seinen Stuhl.
»Das sind zwei Helden, was, Henry?«, sagte ich mit einem kleinen Lächeln.
»Na, bei diesem heißen Wetter kann ja wohl jeder Eishauch willkommen sein. Aber jetzt dürft ihr beiden die Polarkappen wieder absetzen und ganz normale Menschen aus Fleisch und Blut werden.«
»Gut, kommen wir zur Tagesordnung. Patrick, ich hörte, dein Zeugnis weist mich als deinen Vater aus. Zeig den Lappen mal vor.«
»Schön, wie selbstbewusst du mit deiner Intelligenz umgehst«,konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, als Patrick ins Haus ging.
»Wie sollte ich sonst damit umgehen? Wo ich doch ansonsten wenig andere Vorzüge zu bieten habe?«
»Das beurteilst am besten du selbst.«
Bevor ich mich auf irgendein heimtückisches Glatteis begeben konnte – mir lag das eine oder andere zu seinem Aussehen leider auf der Zunge –, kam Patrick zurück, und die beiden vertieften sich in das Zeugnis. Damon sah erschreckend gut aus, oder wahrscheinlicher war es, dass sich plötzlich mein Maßstab von dem, was ich an Männern begehrenswert fand, verschoben hatte. Er war noch immer so schlank wie vor zwölf Jahren, aber vielleicht etwas muskulöser und nicht mehr so knochig. Sein Gesicht war zwar noch kantig, die Nase schief, und die Lippen waren schmal, aber ein paar feine Linien um die Augen und den Mundwinkeln hatten ihm seltsamerweise eine Weichheit gegeben, die durch Gefühle entstanden sein musste. Ob Lachen, Leid oder Leidenschaft sie geprägt hatten, das konnte ich allerdings nicht beurteilen.
Als ob er meine eingehende Musterung gespürt hätte, hob er plötzlich den Kopf und sah mich an. Sofort senkte ich die Augen, aber sein Blick verriet mir, dass er wieder einmal Gedanken gelesen hatte.
»Also, es gibt verschiedene Möglichkeiten, die wir ins Auge fassen können«, referierte Damon dann nach einer Weile. »Du könntest eine Klasse überspringen, in der Schule, in der du jetzt bist. Aber du könntest das auch mit einem Schulwechsel verbinden.«
»Ich glaube, wenn ich in der Schule bleibe, wird das eine Zeitlang ziemlich doof sein.«
»Das denke ich auch«, sagte ich. »Deine Freunde werden sich vermutlich komisch verhalten.«
»Ja, und manche Lehrer vermutlich auch.«
»Dein Gymnasium ist eines der besten hier in der Gegend. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, eine Klasse zu überspringen, dafür aber an eine Schule mit niedrigerem Niveau zu gehen.«
»Stimmt auch. Also muss ich mich entscheiden, ob ich gehänselt oder weiter unterfordert werde.«
Damon nickte anerkennend. »Du bringst es klar auf den Punkt. Aber ich hätte da noch eine Möglichkeit anzubieten. Die hat zwar auch einen Pferdefuß, aber erweitert die Auswahl etwas. Du könntest auf die Schule gehen, die ich auch besucht habe. Es gibt dort besondere Förderprogramme für Nachwuchsgenies wie uns beide. Es ist eine Privatschule, die allerdings mit einem Internat verbunden ist.«
»Das heißt fortgehen. Wohin?«
»In diesem Fall ziemlich weit, allerdings nicht ganz in die Fremde, denn Henry würde in der Nähe wohnen.«
Ich holte tief Luft. So schnell also ging das. Die Entscheidung war für mich eindeutig, und ich war froh, dass ich in der vergangenen Nacht mit Patrick geredet hatte.
»Du warst auf dieser Schule, Vater. Hat es dir gefallen?«
»Ja, mir hat es dort gefallen. Ich stehe sogar noch in Kontakt mit einigen von den Pädagogen dort, zwei von ihnen sind gute Freunde von mir geworden.«
»Das kann ich mir bei meinen jetzigen Lehrern nicht vorstellen.«
»Das glaube ich dir. So etwas ist auch selten.«
»Was muss ich denn tun, um dort hingehen zu können?«
»Den formalen Kram würde ich erledigen, Patrick. Du musst eigentlich nur deine Mutter fragen, ob du gehen sollst.«
»Nein. Sie weiß, dass ich gehe.«
Es war mehr als Erstaunen, das ich in Damons Blick las. »Nun, dann gebietet es zumindest die Höflichkeit, dass du sie fragst.«
Patrick stand auf, kam zu mir, blieb vor mir stehen und neigte höflich den Kopf.
»Darf ich in das Internat gehen, Amanda?«
»Natürlich, Patrick.«
»Danke.«
Er setzte sich wieder hin, und ein Sonnenstrahl beleuchtete sein Gesicht. Wie sehr ich
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