Die Herrin des Labyrints
und Leidenschaft verflocht sie mit der Zielstrebigkeit. Als sie fertig war, hob sie den Kopf und sah sich um. Von ihrem Platz in der Mitte des Labyrinthes konnte sie in alle Ecken des dämmrigen Tempels sehen, und ihr Blick schweifte suchend umher. Plötzlich wollte ihr der Atem stocken, denn in einer fernen Nische erkannte sie die Gestalt ihres Geliebten. Noch einmal zwinkerte sie ungläubig, dann nahm sie ihre neuen Eigenschaften auf und lief zu ihm, ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Doch als sie sich freudig in seine Arme werfen wollte, da prallte sie von der steinernen Figur ab und holte sich blaue Flecken.
Ein Standbild war es, aus hartem, grauem Granit.
Traurig schlich die Göttin zurück in die Mitte des Labyrinths und versuchte, ihre Schmerzen zu stillen. So saß sie wieder dort, träumend und lauschend in ihrer Einsamkeit, während die Jungfrauen des Tempels ihren gewundenen Tanz tanzten. Sie hüllte sich in Geduld und wartete träumend und voller Sehnsucht.
Manche ihrer Träume erreichten die Sterblichen.
KAPITEL 54
Ritualkunde
»Was hast du mit deinen Händen gemacht?«
Halima sah entsetzt auf meine geschwollenen und verschorfenden Finger.
»Ich habe versucht, einen Baum mit bloßen Händen auszureißen, und als das nicht geklappt hat, habe ich vor Wut einen Zaun niedergerissen.«
»Du bist doch ganz bei dir gewesen, oder?«
»War knapp vor dem Abheben, aber ich habe es geschafft, meinen Verstand zu retten. Ich hätte es besser nicht getan. Er taugt nichts.«
»Erzähl es im Klartext, bevor wir tanzen.«
Ich erzählte es ihr. Was sollte ich sonst tun?
»Jetzt stehe ich genau wieder da, wo ich angefangen habe«, schloss ich meinen Bericht, dem sie schweigend und nachdenklich zugehört hatte.
»Nicht ganz, Amanda. Du hast nur eine ganze Runde gedreht. Jetzt bist du sozusagen am Beginn einer neuen Ebene. Du weißt, was du willst.«
»Weiß ich das?«
»Ja, du willst Damon. Jetzt, sogleich, mit Haut und Haaren. Aber so einfach funktioniert das eben nicht.«
»Wie wahr. Aber was soll ich denn anders machen?«
»Das hast du doch schon selbst erkannt. Du musst dich etwas mehr für ihn interessieren. Nicht nur für seinen durchaus begehrenswerten Körper. Finde den Schatten heraus, der auf ihm lastet. Der ihn so verletzlich macht, dass er auf diese brutale Weise reagiert.«
»Mensch, Halima, was noch? Ich bekomme ständig neue Aufträge, etwas zu suchen. Allmählich wird das ein bisschen lästig!«
»Du bist eben eine Sucherin. Du hast bisher Erfolg damit gehabt. Das sollte dir eigentlich Mut machen. So, jetzt gehen wirin den Übungsraum, und du tanzt dich erst einmal richtig aus. Mach dir keine Sorgen um irgendwas. Los, ich will sehen, was du noch behalten hast!«
Es war noch immer schwülwarm, auch das nächtliche Gewitter hatte keine Abkühlung gebracht. Zwei Minuten dröhnende Trommeln und ich hatte den Eindruck, ich löste mich auf. Nach drei Minuten merkte ich nichts mehr davon, nach vier Minuten verlor ich den Kontakt zum Spiegel und jegliches Zeitgefühl. Aber ich tanzte, und ich fühlte, dass mich Halima mit einem dünnen Fädchen in der Realität hielt, einfach kraft ihrer Aufmerksamkeit.
»Gut, verlernt hast du nichts, Rhythmusgefühl ist hervorragend, Ausdruck so lala, Ausdauer beachtlich. Kommen wir zu den Feinheiten.«
Halima war eine ausgezeichnete, aber absolut unbarmherzige Lehrerin, die offensichtlich nichts außer Perfektion gelten ließ. Nach anderthalb Stunden durfte ich mich endlich setzen und bekam das obligatorische Glas Tee in die Hand gedrückt.
»Amanda, deine Technik ist gut, aber du machst alles mit viel zu viel Kraft. Oder, nein, du machst alles mit demselben Krafteinsatz. Sieh mal, was man alles mit einem einfachen Hüftschwung ausdrücken kann!«
Halima, genau wie ich in einem Trikot, aber ohne Hüfttuch, führte vor, was sie meinte, und selbst in dieser äußerst unspektakulären Aufmachung, ohne Kostüm, ohne Make-up, die Haare nachlässig aufgesteckt, brachte sie es fertig, einzig und allein mit dem Auf und Ab ihrer Hüften die unterschiedlichsten Launen zu zeigen. Mal war es eine kecke, freche Aufforderung, mal ein sinnliches Locken, eine aggressive Warnung oder ein melancholisches Zusammensacken.
»Ich bin eine unfähige Niete, Halima. Ich verstehe es nicht, es auf die Weise rüberzubringen.«
»Du tanzt seit drei Jahren, Amanda. Ich seit dreißig. Das sollte wohl einen kleinen Unterschied ausmachen. Unfähig bist du nicht, nur
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