Die Herrin des Labyrints
soll man sich denn hier zurechtfinden?«, maulte Galla, als er sich das dritte Mal einen Zeh angestoßen hatte und sich krampfhaft an dem göttlichen Ärmel festhielt. Die Göttin aber flüsterte nur leise: »Pssst!« und spitzte die Ohren.
»Hörst du was?«
»Pssst!«
Also lauschte auch der kleine Dämon, und in der Tat war da ein leises Singen zu hören. Die beiden wandten sich in diese Richtung – es war der Westen und so ziemlich der äußerste Rand der Welt. Und dort, nahe am Horizont, stießen sie auf eine Gruppe lieblich singender Mädchen, die unter einem Apfelbaum saßen. Ein ganz schwacher Schimmer des Abendrots erhellte noch die Szene.
Die Göttin verneigte sich höflich, und eines der Mädchen stand auf und begrüßte sie.
»Willkommen am Tor der Nacht, Fremde. Was führt euch zu uns?«
»Die Suche nach Licht«, sprudelte Galla hervor, aber die Göttin fuhr ihm über den Mund. Für sie gab es Wichtigeres, und sie erzählte von ihrer Suche.
»Wir sind die Wächterinnen aller magischen Gegenstände, und man nennt uns die Hesperiden, die singenden Abendmädchen. Ich bedaure, aber wir können dir nicht helfen. Wir dürfen nichts fortgeben von dem, was wir hüten. Aber unsere Mutter Nyx wird sogleich erscheinen. Dort, durch das Bronzetor fährt sie jeden Abend, bevor es Nacht wird.«
Und wirklich, die Tore schwangen auf, und in einem von prächtigen Rappen gezogenen Wagen saß eine prächtig in Schwarz gekleidete Frau, auf deren Gewand Sterne funkelten. Trotz ihrer düsteren Erscheinung winkte Nyx den Mädchen freundlich zu und hielt bei der Göttin an. Höflich beugte diese ihre Knie und grüßte die Ältere mit Ehrerbietung. Den kleinen Dämon zerrte sie dabei mit in eine Verbeugung.
»Wenige bezeugen mir heute eine solche Achtung, mein Kind. Ich will mich bei dir bedanken«, sagte Nyx und pflückte einen goldenen Apfel vom Baum. »Er mag dir helfen, einen hoffnungsvollen Charakter zu entwickeln und dir im geeigneten Moment die Fähigkeit schenken, über die Grenzen des nächtlichen Horizontes in das Licht der Gegenwart zu schauen.«
Erfreut und dankbar nahm die Göttin das Geschenk an, auch wenn Galla murrte, dass ihm eine Lampe lieber gewesen wäre. Denn als Nyx weiterfuhr, senkte sich wieder abgrundtiefes Dunkel über das Land.
KAPITEL 33
Vaterschaft, die Zweite
In meinem Schreiben an Henry Vanderhorst hielt ich mich in der Schilderung der Sachlage an die ursprüngliche Ausgangssituation – meinen Auftrag, etwas über Gita von Halstenbergs Tochter Josiane herauszufinden. Ich wollte nicht zuviel preisgeben, denn wer konnte schon sagen, was für ein Typ dieser Mann war? Erfreutstellte ich dann fest, dass er mir sehr prompt antwortete und mich herzlich einlud, ihn zu treffen, um mit ihm über die Briefe und sonstige Erfahrungen zu reden.
Ich bin inzwischen Herr meiner Zeit, und darum wird es uns sicher leichtfallen, einen gemeinsamen Termin zu finden, um Ihre Fragen zu beantworten. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie ein solches Treffen einrichten können.
Das einzige Problem lag darin, dass Vanderhorst nicht gerade um die Ecke wohnte und ich für den Besuch zwei Tage einplanen musste.
»Patrick, meinst du, ich könnte dich einen Freitagabend und einen Samstag lang alleine lassen, um diesen Mann in Norddeutschland aufzusuchen? Du könntest bei deinem Freund Igor übernachten, wenn es seiner Mutter recht ist.«
»Baba, ich bin zwölf Jahr alt. Ich bin kein hilfloses Baby mehr. Ich kann mir auch selbst einen Hamburger heiß machen!«
»Ich weiß, trotzdem wäre es mir lieber, wenn du über Nacht bei Bekannten bliebst.«
»Und wer kümmert sich um Titi?«
»Die kann sich nun wirklich mal zwei Tage lang selbst versorgen. Wir haben schließlich jetzt eine Katzenklappe, und wenn es ihr draußen zu langweilig wird, kann sie jederzeit ins Haus.«
»Ja, aber was meinst du, was sie sich dann verlassen fühlt. Vielleicht kommt sie dann nicht wieder!«
»Patrick, sie ist schon oft genug die ganze Nacht weggeblieben.« Widerwillig stimmte mein Sohn zu und meinte: »Gut, ich frag mal nach.«
Zwei Stunden später hatte mein gerissener Sprössling die Dinge selbst in die Hand genommen und in einer Art geregelt, die mir nicht ganz geheuer war.
»Also, Baba, es ist ganz einfach. Mein Vater holt Titi und mich am Freitag gegen fünf ab, und du kannst anrufen, wenn du wieder zu Hause bist.«
»Findest du das nicht ein bisschen dreist, Damon einfach so zu überfallen?«
»Ich finde es dreister, mich
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