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Die Herrin Thu

Die Herrin Thu

Titel: Die Herrin Thu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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wollte.
    Er trug mich jedoch nicht in die Vergangenheit, wo Verlust und Verzweiflung mich gepackt hätten. Er führte mich in die Zukunft: Kamen und Takhuru und ich auf einem stillen Anwesen, dessen Gärten üppig und schattig waren und in denen bunte Blumen neben gepflasterten Wegen blühten und sich rosige und weiße Lotosblüten auf dem Fischteich wiegten. An unserer bescheidenen Bootstreppe lag ein weißes Boot festgemacht, dessen leuchtend gelbes Segel am Mast vertäut war. Zuweilen bestiegen wir es und fuhren nach Aswat auf Besuch zu Pa-ari und Kamens Großeltern, doch meistens trieben wir damit einfach im dunkelroten Sonnenuntergang auf dem Fluß dahin und sahen den weißen Kranichen mit den ausgebreiteten, großen Flügeln und den Ibissen mit ihrem Kopfputz zu, wie sie friedlich in den hohen Binsen am Ufer standen.
    Wir würden Nachbarn haben, angenehme Menschen, mit denen wir gelegentlich ein Fest feierten und die wir in unsere kleine, aber schöne Empfangshalle einluden, wo wir dann alle auf Polstern vor blumenbestreuten Tischchen saßen, Wein tranken und die Köstlichkeiten verspeisten, die unser Koch zubereitet hatte, während wir munter über Land und Leute plauderten. Vielleicht beehrte uns auch Prinz Ramses, nun nicht mehr länger Erbe, sondern Starker Stier, was unter diesen Nachbarn für Aufregung und Neid sorgte. Men und Shesira kamen zu Besuch, und Kamens Stiefmutter und ich tauschten Anekdoten über den Sohn aus, den wir uns teilten, während Kamen selbst seine Stiefschwestern neckte.
    Ich arbeitete wieder als Heilkundige, doch nicht jeden Tag, denn ich mußte mich auch mit dem Aufseher über Vieh und Äcker beraten und die Aufzeichnungen über Erträge und Gewinne prüfen. Und vielleicht hatte ich Enkelkinder, Kinder mit den zarten, edlen Zügen Takhurus und Kamens klugen Augen, deren braune Patschfinger nach meinen griffen und die auf dem Rasen hinter Schmetterlingen und windverwehten Blättern hertapsten.
    Doch unterschwellig, trotz dieser weinseligen Tagträume, in die ich mich aufatmend fallen ließ, pochte die Wirklichkeit wie eine entzündete Wunde.
    Irgendwo da draußen war Hui.
    Und morgen war der siebte Tag.

 
Sechzehntes Kapitel
    Trotz des Weins, den ich getrunken hatte, schlief ich nicht gut und wachte unversehens und verängstigt auf, als die Vögel ihr Frühkonzert zwitscherten und die ersten, noch kühlen Sonnenstrahlen auf das funkelnde Gras draußen vor meiner Tür fielen. In der Nacht hatte ich mich hin und her gewälzt und war durchgeschwitzt. Die Laken klebten mir am Leib, und ich hatte einen schrecklichen Durst. Ich beugte mich zum Nachttisch, griff nach dem Wasserkrug, der immer gefüllt war, und leerte ihn. Dann legte ich mich wieder hin und sah zu, wie sich das Licht an meiner Zimmerdecke veränderte.
    Wie viele tausend Mal hatte sich Re wohl aus Nuts Schoß erhoben, seit Ägypten aus der Urfinsternis entstanden war? Wie viele Menschen hatten während der Jahrhunderte auf ihren Lagern oder Strohsäcken gelegen wie ich jetzt und hatten den Vögeln gelauscht, wie sie den neuen Tag begrüßten, hatten gespürt, wie sich die Luft ringsum erwärmte, und dabei gedacht: Heute schufte ich, esse und trinke, schwimme im Nil, liebe meine Frau und lege mich schlafen, wenn Re erneut geschluckt wird. Gewißlich sollten sie besser sagen: Heute atme ich, höre ich, sehe ich, lebe ich, und wenn die Götter wollen, so werde ich auch morgen wieder die Augen aufschlagen und noch am Leben sein.
    Und wie wenige hatten die Stunde ihres Todes gekannt?
    Hatten die Augen noch halb im Traum geöffnet und sich schlaftrunken in der zunehmenden Morgendämmerung umgesehen und gedacht, heute tue ich dies, heute tue ich das, bis der flüchtige Augenblick der Schlaftrunkenheit vor dem Entsetzen verflog. Heute soll ich sterben, ich muß die Anzahl der Atemzüge zählen, die mir noch bleiben, denn sie fliehen dahin. Morgen wird es für mich nicht geben. Nie wieder werde ich bei Sonnenaufgang erwachen.
    Auf dem Hof regte sich jetzt Leben. Dienerinnen trabten den Pfad entlang, trugen das erste Mahl des Tages zu ihren schläfrigen Gebieterinnen und brachten den Duft von frischem Brot mit. Ihre Stimmen klangen munter, als sie sich begrüßten. Würde Hunro heute morgen essen? überlegte ich. Hatte sich das Entsetzen beim Aufwachen verflüchtigt und der Hoffnung Platz gemacht, daß selbst jetzt noch Rettung nahte? Und was war mit Paiis? Er hatte mir erzählt, daß er bis zum allerletzten Augenblick warten

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