Die Herrin Thu
würde Hunro nicht Wasser reichen wie mir, sondern den Giftbecher.
Die Dämmerung kam in den Hof gekrochen, und ehe Isis das abgestandene Essen auf meinem Tablett forttrug, entzündete sie meine Lampe. Auch andere Lampen wurden angezündet und flackerten unstet in der lauen Dunkelheit, doch als ich mich an den Türrahmen lehnte und sah, wie sie hinter dem durchscheinenden Vorhang des Springbrunnens verschwammen, wurde mir bewußt, daß der abendliche Trubel fehlte. Es war, als ob im Palast ein Fest stattfände, von dem die Frauen nichts wußten. Ich konnte ihre Gestalten sehen, wie sie sich leise hinter der geöffneten Tür bewegten, doch ihre Dienerinnen saßen oder hockten müßig draußen.
Wie viele Stunden sind es, bis Re die Mitte überschritten hat zwischen dem verschlingenden Rachen von Nut und dem Augenblick, wenn sie ihn als Morgendämmerung wieder ausspeit? überlegte ich, während ich der ungewohnten Stille nachspürte. Der Augenblick, wenn ein Morgen beginnt. Fünf? Sechs? Was soll ich machen? Zum Lesen, selbst zum Beten bin ich zu durcheinander. Das hier ist keine Rache. Die Befriedigung, von der ich geträumt habe, die Trugbilder, von denen ich mich genährt habe, sind mir im Mund zu Asche geworden, und wenn es ginge, ich würde zum Gefängnis stürzen und die Verurteilten befreien. Doch das ist schlicht ein weiteres Trugbild. Ihre Befreiung würde nichts an ihrem Wesen ändern. Und wieso nicht? wisperte eine Stimme in meinem Inneren. Sie hat dich doch auch verändert, denn fühlst du jetzt nicht Erbarmen, wo früher nur Gier und Angst war?
Ich verließ die Tür und ging auf und ab, die Arme fest auf der Brust verschränkt und die Augen auf die Füße gerichtet. Doch ich wollte nicht die Aufmerksamkeit der anderen Frauen erregen, wenn ich an ihren Zellen vorbeikam und vielleicht in eine Unterhaltung gezogen wurde, also verließ ich den Hof und schlug den verlassenen Pfad ein, der zwischen den Mauern des Palastes und des Harems verlief. Hoch über mir, an dem schmalen Streifen sichtbaren Himmels, funkelten die Sterne, doch unten ging ich in so völliger Schwärze, daß ich kaum meine nackten Füße auf dem kühlen Pflaster sehen konnte. Ich begegnete niemandem, der aus einem der anderen Höfe kam oder einen betreten wollte. Selbst im Kinderflügel herrschte Ruhe.
Ich weiß nicht, wie lange ich diesen langen Gang leise auf und ab schritt, während ringsum alles unwirklicher wurde, bis mich mein regelmäßiges Ausschreiten betäubte. Ich kam mir so leicht und flüchtig wie ein Geist vor. Doch nichts beruhigte mich, weder das Schrittezählen noch die schmerzenden Knöchel und auch nicht die Dunkelheit ringsum. Ausgerechnet die abgemessene Bewegung eines jeden Schrittes wurde zu einem zerronnenen Augenblick für Paiis und Hunro, Augenblicke, in denen ihr Leben zu Ende ging.
Als ich wieder einmal zu dem Tor kam, das auf den Dienstbotenhof führte, und kehrtmachte, erblickte ich am anderen Ende des Pfades einen Schatten und blieb stehen. Er näherte sich stetig mit geisterhaft flatterndem Leinen und leisem Klatschen der Sandalen. Beim Näherkommen wurden die undeutlichen Wölbungen und Vertiefungen seines Gesichtes klarer, und ich mußte mich mit einer Hand, die auf einmal taub war, an die Mauer neben mir stützen.
Er blieb stehen und verneigte sich. Seine Miene war ernst und angespannt, und als ich zu ihm hochblickte, merkte ich, daß meine Kehle trocken war und ich nicht sprechen konnte. „Es ist getan“, sagte er. „Sie hat den ganzen Tag auf Rettung gewartet. Vor zwei Stunden bin ich zu ihr gegangen, aber sie wollte nicht trinken, bis die Zeit abgelaufen war und keine Hoffnung mehr bestand. Da war sie dann schon so erschöpft, daß sie sich nicht mehr gewehrt hat. Du hast die Zutaten des Tranks gut gewählt, Thu. Es hat keinen Kampf gegeben.“ Ich versuchte zu schlucken.
„Und Paiis?“ flüsterte ich. Amunnacht lächelte grimmig.
„Gestern hat er den ganzen Tag getrunken und fast den ganzen Morgen verschlafen. Dann hat er sich baden und schminken lassen und hat seinen Priester gerufen. In der letzten Stunde hat er sich die Pulsadern aufgeschnitten und ist vor dem Khonsu-Schrein verblutet. Ein passendes Ende.“
Ein passendes Ende. Plötzlich füllte sich mein Mund mit Galle, ich drehte mich um, stützte die Stirn an die raue Steinmauer und ließ die Tränen laufen. Eine ganze Weile weinte ich lautlos, doch dann spürte ich, wie Amunnacht mir den Arm um die Schulter legte und mich an sich
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