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Die Herrin Thu

Die Herrin Thu

Titel: Die Herrin Thu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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ihr Bruder ihr diese Kunst heimlich beigebracht hatte. Sie wollte nicht in die Fußstapfen ihrer Mutter treten, wie es Sitte war. Unstet und unzufrieden verlangte es sie nach mehr, und dieses Verlangen wurde gestillt, als der berühmte Seher nach Aswat kam, um sich mit den Priestern Wepwawets zu beraten. Das Mädchen war mitten in der Nacht auf die Barke des Sehers geflüchtet und hatte ihn angebettelt, ihr die Zukunft zu weissagen, und statt dessen hatte er ihr angeboten, sie mitzunehmen. Hier legte ich das Manuskript voller Verwunderung und Hoffnung beiseite, denn der Name des Sehers lautete Hui.
    Eines frühen Abends, als die untergehende Sonne den Himmel gerade dunkelgolden färben wollte und das Wasser unter unserem Bug undurchsichtig dahinrauschte, ging ich zu ihr. Sie stützte sich mit verschränkten Armen auf die Reling und hielt das Gesicht in die leichte Brise. Ägypten glitt als beschauliches Panorama aus palmengesäumten Feldern vorbei, hinter denen sich die kahlen Dünen erstreckten, hier und da standen weiße Reiher im steifen Riedgebüsch und sahen hinter uns her. Sie lächelte, als ich mich näherte, das kupfrige Licht verlieh ihrem Gesicht Farbe, und sie schob das Haar zurück, das ihr die Abendbrise ins Gesicht wehte. „Ich kann nicht glauben, daß ich nicht daheim auf meinem Strohsack in Aswat liege und von dieser Freiheit träume“, sagte sie. „Freiheit ist nämlich ein zerbrechlich Ding und möglicherweise nicht von Dauer, aber diese kostbaren Tage genieße ich in vollen Zügen.“ Ich blickte ihr in die Augen und erschauerte.
    „Die ganze Zeit über habe ich dich nicht einmal nach deinem Namen gefragt“, sagte ich ruhig. „Aber ich habe mit deiner Lebensbeichte angefangen und festgestellt, daß er Thu lautet.“ Sie lachte.
    „Ach, Kamen, vergib mir meine Unhöflichkeit!“ sagte sie. „Ja, ich heiße Thu, kurz und gewöhnlich und durch und durch ägyptisch, und dabei ist mein Vater Libyer. Ich hätte ihn dir schon eher nennen sollen.“
    „Du sagst in deinem Manuskript“, fuhr ich vorsichtig fort, „daß der große Seher Hui dich aus Aswat mitgenommen hat. Bei unserer ersten Begegnung hast du mir erzählt, daß du heilkundig bist. Hat der Seher dich ausgebildet?“ Das Lächeln erlosch, und sie blickte eigentümlich, vielleicht sogar traurig.
    „Ja“, antwortete sie schlicht. „Er war und ist wahrscheinlich noch immer der gerissenste und fähigste Arzt in ganz Ägypten. Er hat mich gut unterwiesen.“ Ich schluckte und hätte ihr so gern die Frage gestellt, die mir auf der Zunge brannte, gleichzeitig jedoch hatte ich Angst davor. Faß sie nicht in Worte, warnte ein vorsichtiges Ich. Laß alles, wie es ist. Behalte deine Träume. Ich hörte nicht darauf.
    „Vor kurzem habe ich ihn hinsichtlich eines beunruhigenden Traums, den ich nicht abschütteln konnte, zu Rat gezogen“, sagte ich. „Ich bin ein angenommenes Kind. Dieser Traum hatte mit meiner Mutter zu tun, meiner richtigen Mutter. Ich hatte geglaubt, sie wäre bei meiner Geburt gestorben. Jedenfalls hat man mir das eingeredet. Im Verlauf seiner Weissagung hat der Seher mir gesagt, daß meine Mutter aus dem niederen Volk war und mein Großvater ein libyscher Söldner. Er hat auch gesagt, daß sie tot ist, er sie jedoch flüchtig gekannt hat. Sie soll schön und reich gewesen sein.“ Ich zögerte. Die Brust war mir so eng, daß ich tief Luft holen mußte. „Daher habe ich diesen Auftrag von meinem General gern angenommen, weil das hieß, ich konnte nach Aswat reisen und dich fragen, ob du dich an eine solche Frau erinnerst. Sie vielleicht sogar behandelt hast. Aber vielleicht sehe ich sie jetzt vor mir. Bist du meine Mutter, Thu? Das ist gar nicht so abwegig, ja? Dein Vater ist Libyer. Dein Sohn müßte so alt wie ich sein, ja?“ Jetzt blickte sie ernst und mitfühlend und legte mir die Hand auf die Wange.
    „Ach, armer Kamen“, sagte sie. „Es tut mir leid. Es stimmt, es gibt da gewisse Übereinstimmungen zwischen meinem früheren Schicksal und deinem, aber mehr nicht. Übereinstimmungen. In den frühen Kriegen des Pharaos standen Tausende von fremdländischen Söldnern in seinen Diensten, denen er später die ägyptische Staatsbürgerschaft zugestanden hat. Sie verteilten sich über ganz Ägypten, siedelten auf den Aruren, die der Lohn für ihre Dienste waren, und heirateten Dorfmädchen. Ich war einst schön und reich, aber alles, was ich besaß, gehörte Hui oder war ein Geschenk des Königs, und was den Adelstitel

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