Die Herrin Thu
schlimmer noch, Mitleid in ihrem Blick sah. Hoffentlich konnte sie meinen nicht lesen. Wenn ich den Kasten nahm, würde ich sie von dieser Last befreien. Ich konnte ihn über Bord werfen. Vom Palast würde sie natürlich nichts hören, doch sie mochte sich mit dem Gedanken trösten, daß der König ihre Verbannung schlicht nicht aufheben wollte, und würde darin vielleicht Frieden finden. Solch eine Täuschung war eines Offiziers im Dienste des Königs nicht würdig, aber war meine Absicht nicht gut? Schuldbewußt seufzte ich und nickte, und meine Hände legten sich um ihre, als ich diese anhob, um den Kasten in Empfang zu nehmen, während sie einen Schritt rückwärts machte. „Ich nehme ihn“, sagte ich, „aber du darfst vom König keine Antwort erwarten.“ Sie lächelte verzückt, beugte sich vor und gab mir einen Kuß auf die Wange.
„Oh, aber ich erwarte eine“, flüsterte sie, und ihr Atem war warm auf meiner Haut. „Ramses ist alt, und alte Menschen verbringen gern viel Zeit damit, die Leidenschaften ihrer Jugend noch einmal zu durchleben. Er wird mir antworten. Sei bedankt, Offizier Kamen. Möge Wepwawet dich um meinetwillen schützen und führen.“ Sie hüllte sich fester in den Umhang und ging, verschwand im Dämmerlicht der Hütte, und ich klemmte mir das verfluchte Ding unter den Arm und rannte zum Fluß zurück. Ich kam mir wie ein Verräter vor und verwünschte schon jetzt mein weiches Herz. Hätte ich sie doch nur abgewiesen. „Deine eigene Schuld, wenn du dich vom Mondschein verhexen läßt“, schalt ich mich, während ich durch die Bäume stolperte. „Und was machst du jetzt?“ Denn so herzlos, den Kasten einfach in den Nil zu werfen, war ich nun auch wieder nicht. Als ich meine Schlafstelle erreicht hatte, versteckte ich ihn unter meiner Decke, löste dann eilig meinen Soldaten ab und verbrachte die Stunden bis zur Morgendämmerung in elender Gemütsverfassung mit dem Abschreiten meines Wachbereichs.
Während die Ruderer ein Morgenmahl zubereiteten, stand ich im Innenhof des Tempels und lauschte einem verschlafenen Priester bei der frühen Morgenandacht. Die Gestalt meines Schutzgottes konnte ich durch die halb geöffnete Tür des Heiligtums nicht erblicken, sein Diener versperrte mir die Sicht. Während ich dünne Rauchwölkchen von frisch angezündetem Weihrauch einatmete, die mir die Morgenluft zuwehte, und meinen Fußfall machte, gab ich mir Mühe, mich zu sammeln und die Gebete zu sprechen, die mir auf dem Herzen lagen, doch ich konnte keinen Gedanken fassen, und die Worte kamen mir nur stockend über die Lippen. Als dann Res gnadenloses Lichtvoll über den Horizont gestiegen war, hörte ich auf, mich für meine Schwachheit zu schelten und mich dafür zu schämen, daß ich mich von einer einfachen Bäuerin hatte um den Finger wickeln lassen. Ich beschloß, ihr den Kasten zurückzugeben. Noch zürnte ich mit mir, doch noch mehr mit ihr, weil sie mir die Verantwortung aufgebürdet hatte, das Ding zu überbringen. Wenn ich es behielt, würden mir die harten Entscheidungen zufallen, und ich wußte, daß ich zu ehrlich war, um es einfach über Bord zu werfen und alles übrige dem Nil zu überlassen. Während ich kniete und aufstand, erneut kniete und meine Gebete murmelte, ohne mit dem Herzen bei der Sache zu sein, blickte ich mich immer wieder im Hof um und hoffte, die Frau zu sehen. Doch sie tauchte nicht auf.
Der Priester beendete die Andacht, und die Türen des Heiligtums wurden geschlossen. Er bedachte mich mit einem flüchtigen Lächeln und verschwand in einem der kleinen Räume, die auf den Hof gingen, hinter sich seine beiden jungen Helfer. Ich war allein. Der Kasten stand auf dem Pflaster neben mir, eine stumme Anklage, eine fordernde Waise. Ich ergriff ihn und eilte durch den äußeren Hof, trat heftig in meine Sandalen und rannte über den Vorhof zu der kleinen Hütte, die an der hinteren Wand des Tempels klebte. Als ich den Mund aufmachte und rufen wollte, ging mir auf, daß ich die Frau überhaupt nicht beim Namen kannte. Trotzdem rief ich eine laute Begrüßung und wartete in dem Bewußtsein, daß die Ruderer auf dem Boot bereits die letzten Vorbereitungen trafen und mein Herold liebend gern ablegen wollte. „Hol dich der Henker!“ fluchte ich leise. „Und mich auch, weil ich ein so weiches Herz habe!“ Ich rief noch einmal und schob zögernd die geflochtene Binsenmatte beiseite, die ihr als Tür diente. Sie gab nach, und ich erblickte einen dämmrigen kleinen Raum
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