Die Herrin von Avalon
von ihnen als deine Mutter oder Schwester zu ehren?«
Einen Augenblick lang hob Sianna den Kopf. In vielem mußte sie ihrem Vater gleichen, doch die geheimnisvollen Augen hatte sie von ihrer Mutter. »Das will ich, und die Göttin möge mir helfen.«
»Alle Mädchen, die wir hier ausbilden, gehören der Göttin. Sie dürfen sich deshalb keinem Mann hingeben, wenn es die Göttin nicht ausdrücklich von ihr verlangt. Willst du dich an diese Regel halten?«
»Ja, das will ich.« Sianna lächelte verlegen und blickte wieder auf den Boden. Ihr war nur zu deutlich bewußt, daß sich alle Augen auf sie gerichtet hatten.
»Dann sei bei uns als Novizin willkommen. Wenn du alt genug bist und wenn du den Ruf der Göttin hörst, kannst du bei uns Priesterin werden. Im Augenblick binden dich keine anderen Gelübde.« Caillean breitete die Arme aus und drückte das Mädchen an sich. Der Duft der seidigen Haare machte sie benommen.
Die anderen Frauen kamen nacheinander herbei und begrüßten Sianna als ihre neue Schwester. Zweifel wichen und Vorbehalte lösten sich in Lächeln auf, wenn sie Sianna an sich drückten. Caillean warf einen Blick auf die Fee und sah das geheimnisvolle Leuchten in ihren dunklen Augen.
Sie hat über ihre Tochter einen Zauber geworfen, damit wir sie alle bereitwillig bei uns aufnehmen ... Das darf nicht so weitergehen. Sianna muß ihren Platz bei uns aus eigener Kraft erringen, sonst wird ihr das schaden .
Andererseits, und das wußte Caillean auch, würde es für das Mädchen noch genug Schwierigkeiten geben. Sianna mußte sich an die Regeln der Gemeinschaft gewöhnen und überhaupt lernen, sich in der für sie fremden Welt der Menschen zurechtzufinden. Ein kleiner hilfreicher Zauber, der ihr den Anfang erleichterte, konnte da kaum großen Schaden anrichten.
»Das ist Dica, und das ist Lysanda«, stellte ihr Caillean die beiden letzten in der Reihe vor. »Ihr drei werdet zusammen das kleine Haus neben dem Kochhaus teilen. Dort findest du ein Bett, Sianna, und die beiden werden dir zeigen, wo du deine Sachen unterbringen kannst.« Sie bewunderte Siannas hübsches Gewand aus Wolle, das mit bunten Blättern und Blumen bestickt war. »Geht jetzt und nehmt euch etwas zu essen. Morgen bekommst du ein Gewand von uns, wie es alle Novizinnen tragen.«
Lysanda ergriff Sianna bei der Hand. Die drei Mädchen liefen davon. Caillean hörte Dica lachen, und Sianna stimmte ein.
Behandelt meine Tochter gut, und sie wird für euch alle ein Segen sein. Diesmal bin ich dir zu Dank verpflichtet ...
Caillean hörte die Worte in ihrem Innern. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, daß die Fee verschwunden war. In der Halle redeten die Versammelten fröhlich miteinander und machten sich hungrig über die vorbereiteten Speisen her, die auf der langen Tafel bereitstanden.
»Das ist also die Tochter der Herrin des alten Volkes? Und Gawen soll sich ihrer annehmen?« fragte Vater Joseph, als er zu ihr trat.
»Ja, so ist es.«
»Und du bist damit einverstanden?«
»Wenn es nicht so wäre, hätte ich sie nicht bei uns aufgenommen.«
»Sie gehört aber nicht zu euch ... «
»Auch nicht zu euch, Vater«, bemerkte Caillean und nickte. »Daran gibt es keinen Zweifel.«
Vater Joseph meinte nachdenklich: »Deshalb erstaunt es mich auch, daß ihre Mutter hier war. Sie gehört dem Volk an, das vor den Britonen dieses Land besiedelte. Manche behaupten sogar, daß sie schon vor den Menschen hier waren. Ich denke, sie lebten bereits hier, als die Wissenden aus Atlantis sich an diese Küste flüchteten.«
»Ich kann nicht genau sagen, was für ein Wesen die Herrin des alten Volkes wirklich ist«, erklärte Caillean. »Aber sie hat mir einmal geholfen, als ich in größter Not war. Die Feen besitzen ein Wissen, das wir verloren haben. Ich würde mich freuen, wenn es mir gelingen könnte, dem alten Volk und seiner Weisheit einen Platz bei uns einzuräumen. Sie hat mir versprochen, meinen Adoptivsohn Gawen zu unterrichten.«
»Ja, über Gawen möchte auch ich mit dir reden«, sagte Vater Joseph. »Er ist ein Waisenkind, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Dann möchte ich dir im Namen unseres großen Lehrers, der da sagt: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen‹, und: ›Gebt allen, was ihr von mir empfangen habt‹, anbieten, deinem Sohn Gawen ein Vater zu sein. Er hat mich darum gebeten, unsere Musik bei mir zu erlernen. Wenn das Mädchen ebenfalls unsere Lieder lernen möchte, dann soll sie meine Tochter und Gawens Schwester in
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