Die Herrin von Avalon
schienen mit den Menschen in der Halle auf das Licht zu warten. Er zuckte zusammen, als ihn etwas berührte. Dann merkte er, daß es Cailleans Hand war, die ihm übers Haar strich. Staunend ließ er es geschehen, und etwas, das in diesem Winter in ihm wie das Wasser zu Eis erstarrt war, begann wieder zu schmelzen. Unter der liebevollen Berührung drückte er das Gesicht an Caillean und war froh, daß in der Dunkelheit niemand die Tränen sah, die ihm in den Augen standen.
Es war nichts zu hören, und doch hatte sich etwas verändert. Vielleicht kam es durch die Luft. Plötzlich war er wieder hellwach. Es war noch immer dunkel, doch die Schatten um ihn herum schienen weniger bedrohlich zu sein. Jemand bewegte sich. Er hörte Schritte am anderen Ende der Halle.
Das Tor wurde geöffnet. Mitternachtsblau und funkelnde Sterne füllten das große Rechteck, und wie aus unendlicher Ferne hörten sie den Gesang der Druiden.
» Das Licht kommt aus der Dunkelheit.
Wir in unserer Blindheit können wieder sehen.
Schatten der Nacht ziehen vorüber
und weichen besiegt dem hellen Strahl.
In dieser Stunde der Wahrheit
sprechen wir die Worte der Macht
Und das neue Leben erwacht ... «
Gawen richtete sich auf, um die Worte besser zu verstehen. Jemand stieß einen Freudenschrei aus. Auf dem Gipfel des Tors tanzte eine winzige Flamme. Im nächsten Augenblick folgte eine zweite und dann eine dritte. Die Mädchen liefen aufgeregt ins Freie, aber Gawen blieb sitzen und wartete auf die nächste Strophe des Gesangs.
» Der Kreislauf der Sonne beginnt von neuem.
Die kalte Erde wird aus den Fesseln des Winters befreit.
Das Verlorene findet den Weg zurück zum Tag.
In dieser Stunde der Wahrheit
sprechen wir die Worte der Macht
Und das schmelzende Eis beendet die Nacht ... «
Eine Lichterkette zog sich in Spiralen den Tor herab. Die Stimmen waren unhörbar, wenn die Priester die andere Seite des Hügels erreichten, aber jedesmal, wenn sie wieder auftauchten, wurde der Gesang lauter. Der Einklang der Stimmen schuf ein starkes Band, und wie in den Liedern der Christen spürte Gawen die geistige Kraft der Klänge. Sein ganzer Körper erbebte, so sehr sehnte er sich danach, Teil dieser himmlischen Musik zu sein. Die Gesänge der christlichen Mönche waren erhabene Zeugnisse der allumfassenden Ordnung, die Stimmen der Druiden dagegen vereinten sich und trennten sich. Sie stiegen auf und entschwanden im Raum. Sie schienen frei und ungebunden und doch mit der Natur eins zu sein wie der Gesang der Vögel.
» Aus Verlusten wird Gewinn.
Aus Schmerzen große Freude.
Aus Kummer ungeahntes Glück.
In dieser Stunde der Wahrheit
sprechen wir die Worte der Macht
und selbst der Tod verliert seine Kraft ... «
Die Druiden näherten sich der Halle mit dem alten Cunomaglos an der Spitze. Die Frauen traten zur Seite, um sie einzulassen. Das Gesicht des alten Brannos leuchtete in der Verzückung der Musik. Sein Blick fiel auf Gawen, und er lächelte.
Ich möchte ein Barde werden , dachte Gawen. Ja, das möchte ich. Morgen werden ich Brannos bitten, mir Unterricht zu geben .
Gawen blieb hinter den anderen stehen und rieb sich verwirrt die Augen. Nach der langen Dunkelheit blendeten ihn die vielen Lichter. Die flackernden Fackeln warfen ihren unruhigen Schein auf die strahlenden und glücklichen Gesichter der Menschen, die sich in die Halle drängten. Als Gawen wieder klar sehen konnte, richtete sich sein Blick voll Staunen auf ein Mädchen. Ihre blonden Haare umgaben das helle Gesicht mit einem überirdischen Glanz. Ihre Augen leuchteten. Langsam formte sich in seinem Kopf der Name: Sianna. Doch in diesem verzauberten Augenblick sah er in ihr nicht das Mädchen, mit dem er im Herbst durch den Wald gestreift war. Diesmal erschien sie ihm wahrhaft als die Tochter der Fee.
Jemand reichte ihm ein Honigbrot. Er aß es, ohne die Augen von Sianna zu wenden.
Durch das Kauen fand er allmählich in die Wirklichkeit zurück. Er bemerkte die Sommersprossen auf ihren Wangen und sah sie unbeschwert lachen. Vermutlich war es eine Folge der langen Stunden, die er in der Dunkelheit verbracht hatte, daß der erste Anblick von ihr wie eingebrannt in seiner Erinnerung lebendig blieb.
Vergiß es nie , flüsterte er. Was auch geschehen mag, das ist ihr wahres Gesicht, und es ist schöner als alles auf der Welt .
Ganz gleich, wie viele Nächte der Wintersonnwende sie schon erlebt hatte, für Caillean kam jedesmal der Augenblick, in dem sie fürchtete, es
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