Die Herrin von Avalon
getreten war. Die gewundenen Linien der blauen Drachen schlangen sich um die festen Armmuskeln. Ein alter Mann des kleinen Volkes hatte sie ihm mit Dornen in die Haut gestochen und dann mit Waid blau gefärbt. Gawen befand sich noch immer halb in Trance, als der Mann sein Werk begann. Der Schmerz der Stiche ließ sein Bewußtsein kommen und gehen. Anfangs hatten die Tätowierungen weh getan, aber inzwischen spürte er nur noch den leichten Juckreiz.
Der alte Brannos hatte ihm nach der zeremoniellen Priesterweihe geraten, sich auszuruhen. Zwei junge Druiden hatten ihn gewaschen und mit einer bestickten Leinentunika bekleidet. Dann führten sie ihn in diesen Raum zu einem weichen Lager aus Schaffellen.
Für ihn verschmolzen Traum und Wirklichkeit. Das Erlebte schien manchmal gegenwärtiger als die Finger, die tastend über die blauen Drachen glitten. Das versunkene Land, mit dem er sich so oft in Gedanken beschäftigte, schien in greifbare Nähe gerückt zu sein. Doch er befand sich nach wie vor auf Avalon und hatte den Schritt getan, der ihn aus der Ungewißheit von Kindheit und Jugend in seine Aufgabe bei den Druiden hineinwachsen ließ.
Gawen zweifelte nicht an dem, was er erlebt hatte, konnte es aber immer noch nicht verstehen. Die Priester und Priesterinnen huldigten ihm, denn er war der ›Pendragon‹. Sie feierten ihn als einen Priesterkönig, als einen jener Wissenden, die in alter Zeit über Atlantis geherrscht hatten.
Doch Avalon schien, im Vergleich dazu, ein sehr kleines Königreich zu sein. War er vielleicht jenem Christos ähnlich, den Vater Joseph ebenfalls als einen König bezeichnet hatte - ein König, dessen Reich nicht von dieser Welt war? Er trank einen Schluck aus dem Becher mit verdünntem Wein und lächelte plötzlich.
Werde ich mit Sianna als Königin in einer anderen Welt regieren, wenn diese Nacht erst vorüber ist?
Bei diesem Gedanken fing sein Herz an zu klopfen. Er hatte sie seit dem Ritual auf dem Tor nicht mehr gesehen, aber in dieser Nacht würde sie um das Beltanefeuer tanzen. Er würde als König durch die Reihen der Feiernden gehen und hatte die Macht, sich jede Frau zu wählen, auf die sein Auge fiel. Er wußte bereits, daß es für ihn nur eine gab. Trotz seiner Zeit bei den Soldaten war er nie bei einer der käuflichen Frauen gewesen. Für ihn gab es nur Sianna, wenn es darum ging, seiner Liebe körperlichen Ausdruck zu verleihen.
Jetzt fühlte er sich dazu bereit. Wenn alles nach dem Plan der Priester verlaufen wäre, hätten sie schon vor einem Jahr zusammenkommen können. Aber damals hatte er die Insel verlassen.
Hat sie auf mich gewartet?
Er wußte, daß man die neu geweihten Priesterinnen drängte, an den Beltaneriten teilzunehmen. Wahrscheinlich aus Furcht vor der Antwort hatte er nicht gewagt, Sianna danach zu fragen.
Und wenn schon , dachte er. Darauf kommt es im Grunde nicht an. Jetzt und in Zukunft zählt nur unsere geistige Bindung .
Über den Sumpf hallte der beharrliche Ruf der Trommeln. Sein Herz paßte sich ihrem Rhythmus an. Lächelnd schloß er die Augen.
Bald wird es soweit sein. Bald ...
Caillean beobachtete das festliche Treiben und dachte, daß sie vermutlich im nächsten Jahr Beltane auf der Wiese am Fuß des Tors würden feiern müssen. Auf dem Platz jenseits des Steinrings war kaum noch genügend Raum für die Druiden und die jungen Priesterinnen. Auch das kleine Volk aus den Sümpfen war gekommen. Sie standen im Schatten der Bäume und blickten mit staunenden Augen auf das große Feuer.
Es war erstaunlich, wie schnell sich die Nachricht auf der Insel verbreitet hatte. Aber natürlich hatte der alte Mann, der Gawen die blauen Drachen auf die Arme tätowierte, allen die Geschichte erzählt.
Die Priesterinnen der Gemeinschaft erfuhren als erste, was sich in der Nacht ereignet hatte. Sie sahen die strahlenden und stolzen Gesichter der Druiden, die am Morgen vom Tor herunterkamen, und teilten ihre Freude. Deshalb lag diesmal über dem Fest eine ganz besondere Erwartung, und alle Frauen hatten sich mit ihrem Aussehen besondere Mühe gegeben. In dieser Nacht würde der König bei ihnen sein. Welche von ihnen würde er zu seiner Braut machen?
Caillean mußte nicht in die Silberschale blicken, um im heiligen Wasser die Antwort auf diese Frage zu finden. Auch wenn Gawen nicht schon von Kindheit an Sianna aus ganzem Herzen geliebt hätte, so war er doch offensichtlich von ihrer Anmut und Schönheit verzaubert gewesen, als er sie am Morgen beim Ritual
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