Die Herrin von Avalon
vor IHR bin ich nackt, auch wenn ich bekleidet wäre ...
»Herrin«, antwortete er mit belegter Stimme. »Ich bin da.«
»Du hast die Prüfungen des alten Wissens bestanden und alle Härten, die dir deine Lehrer auferlegt haben, ertragen. Bist du jetzt bereit, MIR die Treue zu schwören?«
Gawen nickte, und eine der drei Gestalten trat vor. Sie schien größer zu sein als die anderen und wirkte auch schlanker, obwohl er zunächst keinen Unterschied zwischen ihnen bemerkt hatte. Über dem weißen Schleier trug sie wie eine Sternenkrone einen Kranz aus blühendem Weißdorn.
»Ich bin die Jungfrau, die ewig Unberührte, die heilige Braut ... « Ihre Stimme klang sanft und zart.
Gawen versuchte, das Gesicht hinter dem Schleier zu erkennen. Bestimmt war es Sianna. Doch das Gesicht und ihre Gestalt veränderten sich immer wieder. Die Liebe, die er für sie empfand, war manchmal die eines Vaters, dann die eines Bruders und auch die eines Liebhabers, der zu sein er sich wünschte. Aber eines war ihm deutlich bewußt: Er hatte diese Frau schon oft geliebt und auf unterschiedliche Weise.
»Ich bin der Anfang von allem«, fuhr sie fort. »Ich bin die Erneuerung der Seele. Ich bin die Wahrheit, die nicht befleckt oder verdreht werden kann. Bist du bereit, auf ewig dem Leben, das ICH schenke, zu dienen? Gawen, ich frage dich: Bist du bereit, mir das zu schwören?«
Er atmete tief und sagte mit fester Stimme: »Ich schwöre es.«
Sie hob den Schleier und trat vor ihn. Er sah, daß es Sianna war, die ihm ihre Lippen zum Kuß bot. Aber es war nicht nur Sianna, sondern mit ihr bot sich ihm die ewige Verheißung auf das wiederkehrende Leben. Die Berührung glich der reinen weißen Flamme.
Sie entfernte sich wieder von ihm. Er richtete sich auf und sah, daß die mittlere der drei Frauen näher kam. Sie trug einen roten Schleier und auf dem Kopf einen Kranz aus Ähren.
Wer mochte in der Gemeinschaft der Priesterinnen die Aufgabe haben, diese Gestalt der Göttin zu verkörpern?
Sie wirkte klein, aber im nächsten Augenblick war sie riesengroß und wurde zur Göttin, deren Thron die ganze Erde zu sein schien.
»Ich bin die Mutter, die das Leben nährt. Ich bin die Herrin der Erde. Ich bin Wachstum und Kraft und schütze alles, was die Erde hervorbringt. Ich verändere mich, aber ich sterbe nie. Bist du bereit, der Erde zu dienen? Gawen, ich frage dich: Bist du bereit, mir das zu schwören?«
Er kannte die Stimme! Gawen blickte angestrengt durch den dünnen Schleier. Beim Anblick der blitzenden dunklen Augen wich er erschrocken zurück. Sein innerer Blick verriet ihm, daß er vor der Fee stand, die ihm das Leben gerettet hatte.
»Du bist das Tor zu allem, was ich mir wünsche«, antwortete er leise. »Ich kann dich nicht mit dem begreifen, was in mir ist, aber ich werde dir dienen.«
Sie lachte. »Versteht das Samenkorn die Kraft, die bewirkt, daß der Keim in der Dunkelheit hervorbricht und ans Licht kommt? Kann das Kind begreifen, was dafür verantwortlich ist, daß es aus der Sicherheit des Mutterleibs herausgestoßen wird? Dein Bekenntnis ist alles, was ich von dir verlange.«
Sie öffnete die Arme, und er sank an ihre Brust. Wenn er bislang der Fee begegnet war, hatte es immer einen unüberbrückbaren Abstand zwischen ihnen gegeben. Aber als er jetzt in ihren Armen lag, fühlte er sich so geborgen und geliebt, daß ihm die Tränen kamen. Er schien wieder ein kleines Kind zu sein, das sich sorglos in der schützenden Umarmung der Mutter wiegt. Seine leibliche Mutter drückte ihn an sich - die Erinnerung an ihre zarte weiße Haut und an die blonden Haare hatte er stets aus seinem Bewußtsein verbannt. Und zum ersten Mal verstand er, daß Eilan ihn wirklich geliebt hatte ...
Als sich die Fee von ihm löste, stand er wieder vor der Göttin, und sie näherte sich ihm in ihrer bedrohlichen Gestalt. Die Krone, die sie trug, war aus Knochen.
»Ich bin die Alte!« rief sie streng, »die Verkörperung des alten Wissens, die Herrin der Weisheit. Ich habe alles gesehen, alles ertragen und alles gegeben. Ich bin der Tod, Gawen. Ohne mich kann nichts verwandelt werden. Bist du bereit, auch mir zu dienen? Gawen, ich frage dich: Bist du bereit, auch mir den Schwur zu leisten?«
Ich habe den Tod kennengelernt ...
Gawen dachte an die blicklosen, aufgerissenen Augen der Männer, die er im Kampf getötet hatte. Der Tod mähte die Menschen nieder wie die Sense das Korn. Was konnte Gutes daraus entstehen? Doch er wußte, nur aus dem
Weitere Kostenlose Bücher