Die Herrin von Avalon
Frau erstaunlich unbefangen.
Teleri stellte im Laufe des Tages fest, daß zwischen ihnen kein allzu großer Altersunterschied bestand. Teleri war achtzehn, und die Hohepriesterin nur zehn Jahre älter. In Hinblick auf Verantwortung und Erfahrung unterschieden sie sich jedoch beträchtlich.
Diernas erstes Kind, eine Tochter, war erst ein Jahr alt gewesen, als seine Mutter mit dreiundzwanzig zur Hohepriesterin geweiht wurde, und es lebte inzwischen bereits bei Zieheltern. Bei dem Gedanken kam sich Teleri selbst wie ein Kind vor. Mit den Erwartungen eines Kindes schlief sie am Abend auch ein und freute sich ungeduldig auf den Aufbruch am nächsten Morgen.
Sie verließen Durnovaria an einem nassen und regnerischen Morgen. Die Stadt lag noch in tiefem Schlaf. Die Hohepriesterin hatte sehr früh aufbrechen wollen, denn die erste Etappe der Reise war lang und beschwerlich. Der Stadtwächter öffnete ihnen gähnend das Tor und rieb sich verschlafen die Augen. Teleri dachte, er werde sich bestimmt nicht an die Reisenden erinnern, die so früh die Stadt verlassen hatten. In den dunklen Umhängen verschwanden die beiden Priesterinnen wie Schatten im Dunst, und auch die Männer der Eskorte schienen etwas von dieser Körperlosigkeit übernommen zu haben.
Teleri war hellwach. Sie stand normalerweise früh auf. Die Vorfreude hatte sie jedoch noch früher aufwachen lassen. Sie erschien bereits in der Eingangshalle, bevor man sie rief. Auch die niedrig dahinziehenden Wolken und der Regen dämpften ihre gute Stimmung nicht. Sie trieb ihre Stute an und lauschte auf den Gesang der Vögel, die den neuen Tag begrüßten.
Die kleine Gruppe näherte sich gerade dem Flußufer, als Teleri den Ruf eines Vogels hörte. Im Herbst zogen viele Vögel auf dem Weg nach Süden hier vorbei. Sie sah sich aufmerksam um, denn sie hätte den Vogel gern gesehen, den sie nicht kannte. Sie wußte, daß an den Ufern von Avalon viele Wasservögel lebten. Auf der heiligen Insel würde sie bestimmt viele neue Arten entdecken. Der Ruf ertönte noch einmal, und ihre Stute spitzte die Ohren. Teleri überkam eine seltsame Unruhe. Sie schob die Kapuze zurück, um besser sehen zu können.
Unter den Weiden bewegte sich etwas. Sie zügelte das Pferd und machte den Freigelassenen in ihrer Nähe aufmerksam. Er richtete sich auf und griff nach der Keule. Ein Pfiff ertönte, die Weiden erzitterten, und im nächsten Augenblick sprangen Bewaffnete auf die Straße.
»Flieht!« rief der jüngere der beiden Druiden, der an der Spitze des Zuges ritt. Ein Speer zischte durch die Luft. Sie sah, wie der Druide plötzlich schwankte. Sein Pferd wieherte und stieg, dann stürzte er aus dem Sattel. Teleris Stute wäre beinahe auch gestiegen, als sie das Pferd herumriß. Aber dann fiel ihr ein, daß Dierna schutzlos war. Sie drehte um und ritt auf die Hohepriesterin zu.
Immer mehr Bewaffnete tauchten aus dem Dunst auf. Speerspitzen blitzten gefährlich, und Teleri sah ein gezücktes Schwert. Die Freigelassenen schlugen mit den Keulen auf die Angreifer ein, aber gegen die scharfen Klingen waren sie machtlos. Einer nach dem anderen wurde vom Pferd gezerrt. Ihre Todesschreie hallten durch die Luft. Teleris Stute wieherte laut, als sie das Blut roch. Ein Gesicht tauchte plötzlich neben Teleri auf, und eine schwielige Hand packte sie am Fußgelenk. Sie schlug mit der Reitpeitsche auf den Mann ein, und er ließ fluchend los. Dierna hielt die Zügel nicht mehr in der Hand, sondern hatte die Arme zum Himmel erhoben. Sie zeichnete seltsame Zeichen in die Luft, dann fing sie leise an zu singen. Das Durcheinander um sie herum legte sich. Aber dann ertönte in der Nähe ein Schrei. Teleri drehte sich zur Seite und sah einen Speer auf die Hohepriesterin zufliegen. Sie trat der Stute mit den Fersen in die Seiten, aber sie war zu weit entfernt, um etwas tun zu können. Erdfulla hatte sich bei dem Überfall nicht von Diernas Seite entfernt. Mit einem Aufschrei warf sie sich jetzt vor die Hohepriesterin.
Teleri sah voll Entsetzen, wie sich die Speerspitze in die Brust der jungen Frau bohrte, und hörte den gellenden Todesschrei, als Erdfulla in Diernas Arme sank. Die beiden Pferde der Priesterinnen gerieten in Panik und stiegen. Die Frauen stürzten zu Boden. Teleri schlug verzweifelt mit der Peitsche um sich. Die angreifenden Männer brachten sich vor ihr in Sicherheit, aber dann griff einer nach den Zügeln ihres Pferdes. Als sie sich zur Wehr setzen wollte, riß er ihr die Peitsche aus der
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