Die Herrin von Avalon
von uns einzutreiben und uns nichts dafür zu geben. Bevor die Römer kamen, konnten wir uns wenigstens selbst verteidigen!«
»Wenn uns Kaiser Maximian nicht helfen wird, dann brauchen wir einen eigenen Herrscher!« erklärte der dritte.
Er hatte nicht sehr laut gesprochen, aber Pollio sah ihn mißbilligend an. »Wer sollte das sein, junger Held? Du vielleicht?«
»Aber, aber ... «, unterbrach der Vater schnell das gefährliche Gespräch. »Wir halten hier nichts von Hochverrat.« Er lachte etwas gezwungen. »In seinen Adern fließt das Blut seiner Ahnen. Unsere Vorfahren haben die Durotriges schon verteidigt, bevor Julius Caesar aus Gallien hierherkam.« Er lächelte seinen römischen Gast gewinnend an und fügte mit hochgezogener Augenbraue hinzu: »Aber es ist wahr, wenn das römische Reich in Nöten ist, dann scheint Britannien manchmal die letzte aller Provinzen zu sein, um die sich jemand Gedanken macht.« Als Pollio etwas erwidern wollte, ließ er ihn nicht zu Worte kommen, sondern fügte beschwichtigend hinzu: »Natürlich sind wir trotz allem im Reichsverbund am besten aufgehoben. Wir wollen uns nicht wie früher von den ewigen Streitigkeiten der Stämme aufreiben lassen ... «
Dierna hörte aufmerksam zu und reagierte etwas ungehalten, als sie jemand am Ärmel zupfte. Es war Vitruvia, die Gemahlin von Pollio, und wahrscheinlich deshalb die am kostbarsten gekleidete Frau des Abends.
»Herrin, ich habe gehört, daß du viel von Kräutern und Heilmitteln verstehst ... « Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern und beschrieb in aller Ausführlichkeit ihre Beschwerden. Dierna ließ sich von der Schminke, dem Schmuck und der Seide nicht täuschen und wußte sehr schnell, worum die Sorgen dieser Frau kreisten.
»Hast du in der letzten Zeit Veränderungen deiner Mondblutungen beobachtet?« fragte sie schließlich.
»Ich bin noch fruchtbar!« erwiderte Vitruvia gekränkt, und das flammende Rot, das ihr Gesicht überzog, leuchtete durch die weiß geschminkten Wangen hindurch.
»Im Augenblick noch«, sagte Dierna freundlich. »Aber du befindest dich bereits im Übergang, der dich von der lebenspendenden Mutter zur Weisheit des Alters bringen soll. Keine Angst, es wird noch ein paar Jahre dauern, bis du in diesen neuen Lebensabschnitt hineingewachsen bist.« Die reiche, vornehme Frau senkte betroffen den Kopf und drückte die Hand auf das Herz. Dierna nickte verständnisvoll. »Im Augenblick rate ich dir zu Beifuß. Bei Herzbeschwerden nimmst du ein paar Tropfen, und es wird dir leichter werden.«
Aus dem Nebenraum drangen verlockende Düfte von gebratenem Fleisch. Dierna stellte plötzlich fest, daß sie großen Hunger hatte. Seit dem morgendlichen Mahl war viel Zeit vergangen. Sie hatte gehofft, daß sich die Tochter des Fürsten zum Abendessen zu ihnen gesellen würde, aber vielleicht war Eiddin Mynoc ein Vater mit Grundsätzen, der die Ansicht vertrat, unverheiratete Mädchen sollten sich nicht in Gesellschaft zeigen.
In diesem Augenblick erschien ein Diener und erklärte, die Speisen seien aufgetragen.
Als sie in den Gang traten, spürte Dierna etwas. Es schien nur ein Luftzug zu sein, aber sie drehte sich unwillkürlich um. Im Halbdunkel am anderen Ende sah sie eine helle Gestalt. Es war ein Mädchen, das schnell und leichtfüßig auf sie zukam. Die Hohepriesterin blieb so unvermittelt stehen, daß Erdfulla gegen sie stieß.
»Was ist los?« fragte die junge Priesterin.
Dierna konnte keine Antwort geben. Ein Teil ihres Bewußtseins registrierte, daß das Mädchen gerade erst zur Frau heranreifte. Sie war groß, schlank und geschmeidig wie eine Weide. Sie hatte helle Haut und dunkle Haare. Die betonten Wangenknochen und die hohe Stirn erinnerten an Eiddin Mynoc.
Dierna war aus einem anderen Grund verstummt. Die Begegnung war eine Art Wiedererkennen. Ihr Herz klopfte plötzlich so schnell wie das der armen Vitruvia. Sie schloß die Augen und sah das Mädchen als Frau und im Gewand einer Priesterin, dann wieder als Kind mit kastanienbraunen Locken und goldenen Armreifen, die sich wie Schlangen um ihre zarten Handgelenke wanden.
Wer ist sie , fragte sich die Hohepriesterin. Wer war sie und wer war ich, daß ich sie mit so ahnungsvoller Freude wiedererkenne?
Aus weiter Ferne hörte sie wie als Antwort einen Namen. Adsartha ...
Das Mädchen erreichte sie und bekam beim Anblick des blauen Gewandes große Augen. Sie sank vor der Hohepriesterin anmutig auf die Knie, griff nach den Fransen von Diernas
Weitere Kostenlose Bücher