Die Herrin von Avalon
Schultertuch und küßte sie. Die Herrin von Avalon blickte noch immer wie gebannt auf den geneigten Kopf.
»Ach, da ist ja mein eigenwilliges Kind!« hörte sie die Stimme des Fürsten hinter sich. »Teleri, meine Tochter, erhebe dich! Was soll die Herrin von Avalon von dir denken?«
Man nennt sie Teleri ...
Die Wirklichkeit verdrängte schlagartig die anderen Namen und Gesichter, und Dierna konnte wieder normal atmen.
»Meine Tochter, du erweist mir Ehre«, sagte sie freundlich. »Aber dein Vater hat recht. Es ist weder der richtige Ort noch die Zeit, um vor mir zu knien.«
»Aber Ort und Zeit werden kommen?« fragte Teleri, ergriff Diernas ausgestreckte Hand und stand auf. Die Ehrfurcht wich bereits fröhlichem Lachen.
»Möchtest du das?« fragte Dierna, ohne die Hand loszulassen. »Wir werden es in Gegenwart aller Priesterinnen wiederholen, aber ich möchte dich schon jetzt fragen: Willst du aus freiem Willen ohne jeden Zwang oder auf Wunsch deines Vaters oder eines anderen in die heilige Gemeinschaft der Priesterinnen von Avalon aufgenommen werden?«
Dierna entging nicht, daß Erdfulla sie verblüfft ansah, aber seit ihrer Weihe als Hohepriesterin hatte es für Dierna kaum etwas gegeben, dessen sie sich so sicher war.
»Bei dem Mond, den Sternen und der grünen Erde, das schwöre ich«, erwiderte Teleri ohne Zögern.
»Dann heiße ich dich schon jetzt willkommen, bevor du in Avalon in unsere Gemeinschaft aufgenommen wirst.«
Dierna nahm Teleris Gesicht in beide Hände und drückte ihr die Lippen auf die Stirn.
In dieser Nacht lag Teleri lange wach. Nach dem Abendessen hatte Eiddin Mynoc als guter Gastgeber darauf hingewiesen, daß die Priesterinnen eine anstrengende Reise hinter sich hatten, ihnen eine gute Nacht gewünscht und auch seine Tochter schlafen geschickt.
Der Verstand sagte Teleri, daß das richtig gewesen war. Sie hätte die Müdigkeit der hohen Gäste selbst bemerken sollen. Deshalb tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß sie auf dem Weg nach Avalon nach Herzenslust mit ihnen reden konnte - sie würde den Rest ihres Lebens mit den Priesterinnen zusammensein. Aber ihr Herz war enttäuscht und wollte nicht einsehen, daß sie sich nach dem ersten Zusammentreffen so schnell wieder von ihnen hatte trennen müssen.
Teleri hatte natürlich erwartet, daß die Herrin von Avalon großen Eindruck auf sie machen werde. Alle kannten die Geschichten von dem hohen Tor, der den Blicken der Menschen entzogen war. Nur die Eingeweihten konnten die Nebel durchdringen, die Avalon vor der Welt verbargen.
Manche behaupteten, es sei nur ein Märchen. Wie sollten sie es auch besser wissen? Wenn die Priesterinnen bei den Menschen erschienen, kamen sie meist unbemerkt und oft sogar in Verkleidung. Aber den alten Adelsfamilien der Stämme war die Wahrheit bekannt, denn viele ihrer Töchter ließen sich ein oder zwei Jahre auf der heiligen Insel ausbilden. Manchmal, wenn es zum Segen des Landes notwendig war, erschien eine der Priesterinnen und vermählte sich am Beltanefeuer mit einem der Führer.
Teleri hatte nicht damit gerechnet, daß die Hohepriesterin sie so liebevoll wie eine alte Bekannte begrüßen würde.
Sie muß mich für eine dumme Gans halten , sagte sich Teleri und warf sich unruhig auf die andere Seite. Natürlich wird sie von allen geliebt und verehrt .
In den Geschichten war die Herrin von Avalon stets eine außergewöhnliche Erscheinung. Das entsprach der Wahrheit. Die Hohepriesterin glich dem Leuchtfeuer um Mitternacht. Neben ihr kam sich Teleri unsichtbar vor. Trotzdem konnte sie das besondere Gefühl der Vertrautheit bei der ersten Begegnung nicht leugnen. Vielleicht hatte sie in einem anderen Leben Dierna tatsächlich gekannt.
Teleri lachte laut auf. Vermutlich würde sie sich bald für Boudicca halten oder für die Kaiserin von Rom.
Sehr viel wahrscheinlicher , sagte sie sich, war ich ihre Dienerin! Sie mußte lächeln und schlief endlich ein.
Teleri wäre am nächsten Morgen am liebsten sofort losgeritten. Aber ihr Vater erklärte, es sei nicht richtig, die Reisenden aus Avalon wieder auf den Heimweg zu schicken, ohne ihnen wenigstens einen Tag der Ruhe zu gönnen. Außerdem hatten sie den Wunsch geäußert, bestimmte Dinge auf den Märkten von Durnovaria zu kaufen.
Beim Gang durch die Stadt wich Teleri der Hohepriesterin nicht von der Seite. Die erstaunliche Vertrautheit der ersten Begegnung stellte sich zwar nicht wieder ein, doch sie fühlte sich in Gesellschaft der älteren
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