Die Herrin von Avalon
Straßenrand. Abgesehen von gelegentlichen leisen Verwünschungen, die sich gegen das Pferd richteten, sprach Viviane wenig. Sie verbrachten eine Nacht in einem Gasthaus in Aquae Sulis. Viviane erhielt einen flüchtigen Eindruck von den einst prächtigen Gebäuden, die allmählich zerfielen. In der Luft lag der Geruch von Schwefeldämpfen. Doch es blieb keine Zeit, sich die Stadt anzusehen. Am nächsten Morgen ritten sie auf der Straße in Richtung Lindinis weiter. Viviane hatte Schmerzen und war erschöpft. Sie ärgerte sich über das Pferd, und einmal wurde sie sogar abgeworfen und landete im Schnee. Wie lange mußte sie das noch aushalten?
»Werden wir Avalon heute abend erreichen?« rief Viviane. Taliesin drehte sich um. Die Straße wand sich den Hügel von Mendip hinauf.
»Wenn wir gute Pferde hätten, würden wir es heute noch schaffen. Aber diese Biester gehen nur so schnell, wie sie wollen, oder überhaupt nicht.« Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, fügte er lachend hinzu: »Wir werden es versuchen.«
Am späten Nachmittag fühlte Taliesin etwas Feuchtes auf seinem Handrücken. Er hob den Kopf und sah, daß dicke Wolken den Himmel verdeckten. Es schneite. Seltsamerweise schien es plötzlich wärmer zu werden.
Nachdem sie die Straße überquert hatten, die zu den Bleiminen führte, wurde es dunkel. Er bog in einen Weg ein, an dessen Ende einige Gebäude zwischen Bäumen standen.
»Im Sommer werden hier Ziegelsteine gemacht«, erklärte Taliesin. »In dieser Jahreszeit steht alles leer. Wenn wir Holz sammeln, um das zu ersetzen, was wir verbrennen, wird niemand etwas dagegen haben, daß wir hier übernachten. Ich habe das schon früher getan.«
Wie in allen unbenutzten Gebäuden schlug ihnen feuchte Kälte entgegen, die sich auch durch das warme Feuer nicht vertreiben ließ. Viviane setzte sich frierend dicht vor die Flammen, während Taliesin Wasser für den Haferbrei kochte.
»Ich habe nicht darum gebeten, diese Reise zu machen. Aber ich danke dir, daß du für mich sorgst. Mein Vater ... das heißt, mein Ziehvater hätte nicht mehr für mich tun können.«
Der Barde warf ihr schweigend einen prüfenden Blick zu und begann, den Brei in eine Schale zu füllen. Vivianes olivenfarbene Haut war vor Kälte blaß geworden, doch ihre dunklen Augen schienen ihn zu durchbohren.
»Bist du mein Vater?« fragte sie unvermittelt.
Er war sprachlos, doch seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte sich diese Frage während des langen Ritts auch schon gestellt. An dem Beltane, an dem sie gezeugt worden war, hatte er als frisch geweihter Priester teilgenommen. Er war zum ersten Mal zu den Feuern gegangen. Obwohl Ana fünf Jahre älter war als er und bereits Mutter von zwei Töchtern, hatte sie die Schönheit der Göttin wie eine Krone getragen.
Er erinnerte sich, sie geküßt zu haben. Der Geschmack des Mets, den sie getrunken hatte, war wie Honig auf ihren Lippen. Aber in jener Nacht waren sie alle betrunken gewesen. Sie hatten sich in der Ekstase der Tänze getroffen und wieder getrennt. Stets aufs neue berührte sich ein Paar, umschlang sich und verschwand in den Schatten zur leidenschaftlichen Vereinigung. Er erinnerte sich an eine Frau, die in seinen Armen aufschrie, als er den Höhepunkt seiner Kraft erreichte. Bei diesem ersten Mal hatten ihn die Gefühle überwältigt. Er konnte sich nicht mehr an das Gesicht oder an den Namen der Frau erinnern.
Viviane wartete immer noch, und sie verdiente eine Antwort.
»Das darfst du mich nicht fragen.« Es gelang ihm zu lächeln. »Kein Mann kann behaupten, mit der Herrin von Avalon ein Kind gezeugt zu haben. Selbst die barbarischen Sachsen wissen das. Du bist vom königlichen Geblüt Avalons, und das ist alles, was ich oder ein anderer Mann dir sagen kann.«
»Als Druide hast du dich der Wahrheit verpflichtet«, erwiderte sie. »Warum kannst du mir die Wahrheit nicht sagen?«
»Jeder Mann wäre stolz darauf, behaupten zu können, er sei dein Vater, Viviane. Du hast die Mühen der Reise ohne Klagen ertragen. Wenn du erst einmal bei den Beltanefeuern gewesen bist, wirst du vielleicht verstehen, warum ich dir keine Antwort auf deine Frage geben kann.« Die Antwort gefiel ihr nicht. Er lächelte. »Die Wahrheit ist, mein Kind, vielleicht bin ich dein Vater. Aber ich weiß es nicht.« Er seufzte.
Viviane hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Trotz seiner besonderen Fähigkeiten, die ihm ermöglichten, seine Seele zu schützen, konnte er den Blick nicht
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