Die Herrin von Rosecliffe
der Dunkelheit lag das Schiff in der kleinen Bucht vor Anker, und im Morgengrauen begann der Exodus der Engländer. Am schmalen Strand unterhalb der Festung herrschte hektische Geschäftigkeit. Zwei Boote brachten die Passagiere und deren Habseligkeiten zum Schiff, kehrten leer zurück und holten die nächste Gruppe ab.
Isolde konnte vom Turm aus nicht das gesamte Geschehen verfolgen, aber sie beobachtete die schwer bepackten Menschen auf dem Weg zum hinteren Tor. Die Männer gingen voraus, nach außen hin sehr gefasst gefolgt von ihren weinenden Frauen und Kindern. Alle verschwanden auf dem steilen Klippenpfad, und Isolde sah sie erst wieder, wenn sie zum Schiff gerudert wurden und an Bord gingen. Wie viele mussten ihr Zuhause verlassen? Sie hatte gar nicht erst versucht sie zu zählen.
Immerhin durften sie ihr Hab und Gut mitnehmen, Und Familien wurden nicht auseinandergerissen. Zum Glück waren auch keine Toten zu beklagen. Rhys hatte Rosecliffe erobert ohne Blut zu vergießen, das musste Isolde ihm zugutehalten.
Aber er duldete keine Engländer in der Burg, die er jetzt als- sein Eigentum betrachtete ... Isolde biss sich die Lippen blutig, um nicht in Tränen auszubrechen, als Osborn an der Spitze der Ritter und Soldaten den Hof überquerte. Der beste Freund ihres Vaters erspähte sie auf dem Turm und winkte ihr zum Abschied zu, ebenso wie Odo. Sie winkte zurück, bis die beiden Männer nicht mehr zu sehen waren.
Alle englischen Frauen zogen gezwungenermaßen in die Ferne. Mehrere Waliserinnen, die mit Engländern verheiratet waren, begleiteten ihre Männer freiwillig. Sogar Magda hatte diesen schweren Entschluss gefasst. Isolde bewunderte den Mut des Mädchens, das seinen Liebsten nicht verlassen wollte, aber sie war auch ein wenig eifersüchtig, denn Magda und George würden bestimmt bald heiraten und eine Familie gründen. Ob sie nun in Wales oder England eine neue Heimat finden würden - sie hatten jedenfalls eine gemeinsame Zukunft vor sich.
Hingegen war Isolde ganz allein, und ihre Zukunft sah alles andere als rosig aus.
Vater Clemson verließ Rosecliffe als Letzter. »Sprecht ein Gebet für mich«, flüsterte Isolde, als der imposante schwarz gekleidete Geistliche im Boot saß und zum Schiff gerudert wurde, das wenig später die Anker lichtete und die Segel hisste. Isolde blickte ihm nach, bis es am westlichen Horizont verschwand, und war in Gedanken bei den Menschen an Bord, deren Schicksal nun völlig in Gottes Hand lag.
Das galt jedoch noch mehr für ihr eigenes Schicksal ... Sie war eine Gefangene in der Burg, die sie immer für uneinnehmbar gehalten hatte, sie war nur noch von Feinden umgeben und den Launen eines Teufels in Menschengestalt wehrlos ausgesetzt.
Die gestrige Konfrontation mit Rhys hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, hauptsächlich deshalb, weil sie seitdem wusste, wie schwach ihr Körper war. Gott sei Dank war er in der Nacht nicht ins Turmzimmer gekommen, denn sie war sich alles andere als sicher, was ansonsten geschehen wäre ... Auch so hatte sie kein Auge zugetan, sich von einer Seite auf die andere gewälzt und zwischen Wut, Angst und Gewissensbissen geschwankt. Jemand hatte gestern Abend und heute Morgen dezent angeklopft und ein Tablett mit Speisen und Getränken vor der Tür abgestellt. Diese Tür war nicht abgeschlossen, und sie hatte auf der Treppe auch keinen Wachposten gesehen. Trotzdem hatte sie sich aus Furcht, Rhys irgendwo zu begegnen, in dem Turmzimmer verkrochen wie ein Fuchs, dem von Hunden gehetzt - in allerletzter Minute die Flucht in seinen Bau gelungen war.
Doch sie konnte nicht ewig in diesem kleinen Raum bleiben, sonst würde sie verrückt werden. Hier oben gab es nichts, womit sie sich ablenken könnte - weder Bücher noch Musikinstrumente, und auch ihre Malutensilien befanden sich in ihrem Zimmer. Weinen, toben und wilde Rachepläne ersinnen half ihr nicht weiter. Sie musste irgendetwas unternehmen - aber was?
Vielleicht sollte sie jetzt am zweiten Nachmittag nach Rhys' Machtübernahme, ausprobieren, ob seine Drohung, ihre Bewegungsfreiheit auf die zwei oberen Stockwerke zu beschränken, ernst gemeint gewesen war.
Isolde öffnete die Tür und schlich vorsichtig die erste Treppe hinab, ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Es war leer, aber man sah, dass Rhys sich hier breit machte. Ein brauner Rock hing an einem Wandhaken, ein schmutziges Hemd war achtlos auf einen Schemel geworfen worden. Der Wasserkrug auf der Waschkommode war leer,
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