Die Herrin von Sainte Claire
nickte lediglich. Theoda senkte die Augen wieder zu Boden. Dann ritt sie aus dem Tor hinaus ohne sich noch einmal umzublicken.
Der goldene Sommer hielt weiter an. Das Getreide reifte und gedeihte wie schon seit zwei Jahren nicht mehr. Der Garten hinter den Mauern des Großen Saals brachte eine satte Fülle von Kirschen, Birnen, Pfirsichen, Erbsen, Zwiebeln, Rüben und Kohl hervor. Niemand würde im kommenden Winter Hunger leiden, weder auf der Burg noch im Dorf. Die Erde war wieder fruchtbar. Die Sommerregen waren mild und warm. Sogar die See wogte sanft gegen die Felsenklippen von Brix.
Eines Abends zur Dämmerung machte sich Alaine auf den Weg zu den oberen Stallungen, in denen die Streitrösser der Burgritter und ein halbes Dutzend sanftmütige Zelter untergebracht waren.
Es brannte nur eine einzige Laterne, als sie durch die Stalltür schlüpfte. Ihr spärlich flackerndes Licht konnte die Dunkelheit kaum vertreiben. Sofort zündete Alaine eine zweite Laterne an und trug sie vor sich her. Ihre kleine Stute wieherte bei ihrem Näherkommen. Lächelnd gurrte Alaine einen zärtlichen Willkommensgruß. Beim Klang ihrer Stimme ertönte vom Heuboden ein dumpfer Schlag. Stroh rieselte herunter, goldglänzend im funkelnden Licht der Laterne.
»Wer da?« fragte Alaine und dachte ziemlich aufgebracht, der Stalljunge hätte eine der Mägde von ihren Pflichten abgehalten, um sich mit ihr im Heu zu vergnügen. Auf Ste. Claire hatte sie sich nicht mit arbeitsscheuem Gesinde herumschlagen müssen.
Die einzige Antwort war Stille. Alaines Zorn wuchs. Sie entdeckte eine Leiter, die gegen einen Stein gelehnt stand. Wenn der Stalljunge wieder seine Pflichten vernachlässigte, würde sie ihm die Ohren langziehen.
Ein Rascheln und Rumpeln folgte, was wiederum eine Strohwolke von oben heruntersegeln ließen. Doch das war alles, was sie zu hören bekam. Also hing sie die Laterne an einen Haken und kletterte hinauf. Der schrille Schrei einer weiblichen Stimme empfing sie, als sie ihren Blick auf den Heuboden heftete. Die breiten Schultern eines Mannes, an dessen Rücken zahllose Heugräser klebten, war alles, was sie entdecken konnte. Sie runzelte die Stirn. Dillon, der Stalljunge, verfügte jedenfalls nicht über derart kräftige Schultern.
Sie trat auf den Heuboden, die Hände in die Hüften gestemmt und ungeduldig mit einem Fuß auf den Boden tappend. »Wer zum Henker …?«
Mit einem Seufzer straffte der Mann die Schultern und drehte sich um. Garin! Garin wälzte sich im Heu! Das Herz der armen Mathilde würde brechen, wenn sie es erführe. Dann tauchte das weiße Gesicht der armen Mathilde auf, das hinter dem Schutz von Garins Körper hervorlugte. Alaine klappte den Mund auf.
»Oh, Alaine!« jammerte Mathilde. »Es ist nicht … es ist nicht …« Ihre Worte erstickten in einer Flut von Tränen.
Alaine starrte auf Garin. Ihr treuer Freund! Ihr Herzensbruder! Machte sich an die arme, unschuldige Mathilde heran auf einem gewöhnlichen Heuboden!
»Ihr erbärmlicher Schurke!« zischte sie. »Das hätte ich nie gedacht! Wie konntet Ihr nur …!«
Mit überraschender Heftigkeit warf sich Mathilde vor Garin. Alaine, die zu einer Ohrfeige für Garin ausgeholt hatte, hielt mitten in der Luft inne.
»Wag es nicht, ihn zu schlagen, Alaine!« quietschte Mathilde aufgeregt.
»Geht zurück in den Saal!« befahl Alaine und wies mit einem herrischen Finger in Richtung Leiter.
»Das werde ich nicht. Wir haben nur …!«
»Ich weiß, was ihr gemacht habt! Geht zurück in den Saal!«
»Nein!« Mathilde reckte trotzig das Kinn hoch.
Nie hätte Alaine gedacht, daß ihre sanfte, scheue Stiefschwester so viel Mumm besäße. Sie wandte ihren Blick zu Garin, der wenigstens angemessen einfältig dreinsah. »Wißt Ihr, was Rorik mit Euch anstellen würde, wenn er Euch so erwischte? Mathilde ist seine Schutzbefohlene. Sie steht unter seiner Obhut. Wie konntet es Ihr nur wagen …?«
»Ich würde alles für Mathilde opfern«, seufzte Garin. »Das Leben hat ohne sie keinen Sinn.«
»Dummes Zeug!« gab Alaine zurück. »Geht zurück in den Saal. Mit Euch werde ich später ein Hühnchen rupfen. Und klopft das Stroh von Euren Kleidern ab.«
Garin war klug genug, ihrer Aufforderung nachzukommen. In seiner Abwesenheit verwandelte sich Mathildes Aufmüpfigkeit in ein Tränenmeer. Alaines Zorn legte sich beim Anblick des verzweifelten Mädchens.
»Oh, Mathilde«, seufzte sie. »Was hast du da getan?«
»Wir haben nichts getan!« schluchzte
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