Die Herrin von Sainte Claire
Augen. »Ich sehe, deine Lunge arbeitet noch, mein Junge. Vielleicht überlebst du doch.«
Rorik überlebte, aber seine Genesung schritt nur langsam voran. Zwei Tage nach dem Kampf legte man ihn in das herrschaftliche Gemach im Großen Saal. Die meiste Zeit war er nicht bei Bewußtsein. Im Wachen versetzten Phantasmagorien aus den tiefsten Tiefen seiner Seele ihn in Raserei. Alaine erlaubte niemandem, ihn zu pflegen. Erst als sie zusammenbrach und Sihtric sie in eine andere Kammer trug, war es einer eifrig bemühten Hadwisa erlaubt, ihren Platz einzunehmen.
Während Rorik im herrschaftlichen Gemach darniederlag und zwischen dieser und einer anderen Welt schwebte, berieten sich Sihtric und Sir Gunnulf über den besten Weg, das Leben auf Brix wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Phillip war ihnen während des Aufruhrs durch Roriks Verletzung entkommen. Der unglückselige Knappe, der Phillip als Handlanger gedient und die Armbrust gehandhabt hatte, war geschnappt und auf der Stelle erhängt worden. Roriks Gefolgsmänner waren wenig erfreut, ihren Herrn durch einen so feigen Anschlag niedergestreckt zu sehen. Der Tod des Knappen konnte ihre erregten Gemüter nicht beschwichtigen. Feindliche Gefühle schwellten unter Roriks Heer und den restlichen Kämpen von Brix. Kleine Handgemenge brachen immer wieder aus. Es hatte mindestens schon drei Tote gegeben – einen aus Roriks Gefolgschaft und zwei Männer, die Fulk und Phillip gedient hatten.
Sihtric und Gunnulf griffen mit harter Hand durch. Ein Bote wurde zu Herzog William geschickt, der ihm einen Bericht der Ereignisse abstattete und die Bitte vortrug, Phillip als Geächteten zu deklarieren. Die Geplänkel hörten sofort nach Sihtrics Warnung auf, die nächsten Unruhestifter, die er beim Streiten erwischte, sofort aufknüpfen lassen, was er auch prompt in die Tat umsetzte. Den Überlebenden von Phillips Heer wurden, unter der Bedingung, daß sie Rorik als ihren rechtmäßigen Herrn anerkannten, die Strafe erlassen.
Alaine erfaßte nur am Rande, was um sie herum geschah. Roriks Gemach war jetzt ihre Welt. Zweimal am Tag wechselte sie den Breiumschlag auf seiner Wunde und entfernte das tote und verfaulte Gewebe. Fünf Tage nachdem er ins herrschaftliche Gemach gebracht worden war, hob sie den Umschlag und sah, daß die Wunde gute Heilfortschritte machte. Die Haut hatte eine leicht rosige und gesunde Farbe angenommen. Eine schorfige Kruste bildete sich als Schutz über der Verletzung. Sein Atem ging leichter, wenn auch noch immer etwas flach, und seine Stirn fühlte sich kühl an. Alaine kniete sich hin und verrichtete ein müdes Dankesgebet. Dann klingelte sie nach Hadwisa, zog sich in ihre angrenzende Kammer zurück und schlief rund um die Uhr.
Bald benötigte Rorik Alaines ständige Hilfe nicht mehr. Ihr Mann verbrachte nun die Tage in ruheloser Schlaflosigkeit. Sie fühlte sich unbehaglich unter seiner ständigen Beobachtung. So widmete sie all ihre Kraft Brix, eine gute Burgherrin zu sein, gerade so, als hätte sie die Gewißheit, daß Rorik sie neben sich behalten würde. In Wahrheit war sie sich gar nicht sicher, ob Rorik dies auch vorhatte. Rorik erklärte ihr, Brix sei nun ihr Zuhause, doch wagte sie nicht bei dem unbeständigen Temperament ihres Mannes, irgend etwas vorauszusagen. War sie mit ihm allein, bekamen seine Augen einen warmen Glanz, verriet sein Lächeln ein verstecktes Glück. Nie erwähnte er die Nacht heftiger Leidenschaft vor dem Zweikampf. Auch kam er nie mehr auf ihr kleines Täuschungsmanöver mit ihrem Kind zu sprechen, noch erwähnte er ihren vermeintlichen Betrug mit Gilbert de Prestot. Sie konnte seine Gedanken nicht ergründen. Das machte sie unruhig. Und sie übertrug diese Unruhe auf Brix.
Nach einem besonders anstrengenden Tag, den sie mit Hilda bis abends in den Vorratskammern verbracht hatte, schlüpfte Alaine wortlos zu ihrer Bettstelle und warf sich erschöpft hin, zu müde, sich ihrer Gewänder zu entledigen.
»Ihr arbeitet zu viel«, erklang eine Hüsterstimme aus dem Himmelbett. Rorik schwang seine wackligen Beine über die Bettkante und betrachtete sie mit einem Lächeln. »Ihr seht zu geschwächt aus, um auch nur einen Finger zu rühren.«
Alaine sah ihn aus schläfrigen Augen an. »Ich sehe geschwächt aus?« schnaufte sie halb empört. »Und wie seht Ihr aus?«
Er grinste. Das milchige Mondlicht flutete durch das Fenster und gab ihm die Gestalt eines langen, geisterhaften Schattens, als er sich erhob und auf ihre
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