Die Herrin von Sainte Claire
Sirenengesang überhören könnte, den er jedesmal vernahm, wenn er sie sah. Dann wäre das Leben um vieles leichter.
Das Heer marschierte den ganzen Tag und noch tief bis in die Nacht. Es bestand keine Notwendigkeit, sich heranzuschleichen, denn Fulk war in aller Form vorgewarnt worden. Die Fußsoldaten lachten und scherzten und prahlten darüber, was sie alles als Beute machen würden, wenn Brix ihnen einmal zufiel. Die Ritter und die älteren Kämpfer, zu Fuß oder beritten, verhielten sich zurückhaltender und zeigten ernste und sachliche Mienen. Sie wußten, was Krieg bedeutete, und begegneten der kommenden Schlacht ohne Angst, aber auch ohne Draufgängertum der jungen Dorfburschen.
Sie schlugen ihr Lager unter einem mondlosen Himmel auf. Lagerfeuer wurden nicht entfacht, sollte Fulk eine Steinschleuder auf der Mauer aufgestellt haben und ihr Lager angreifen. Ein Feuer würde sie zu leicht zum Angriffsziel machen. Kalt und dunkel wie es war, machte sich nun Roriks Heer daran, für den kommenden Morgen bewegliche Sturmdächer und Wurfgeschütze zu bauen, Waffen, Rüstung, Pferde und Zaumzeug in Ordnung zu bringen. Dabei erzählten sie sich untereinander Geschichten von Schlachten und Belagerungen, von Helden und Schurken. Schließlich nahmen sie eine erbärmliche Mahlzeit aus kaltem, gesalzenem Fleisch, hartem Brot und Bier ein, hüllten sich in ihre Mäntel und legten sich schlafen.
Die Morgendämmerung zog dunstig und grau über das Land. Die Türme von Brix waren kaum durch den Nebel zu erkennen. Rorik stand am Waldsaum und beobachtete die Nebelschwaden, die um die dunkelfarbigen Türmchen und Zinnen wallten. Er spürte die tosende See gegen die Kippen aufschlagen und vernahm die heiseren Schreie der Möwen. Endlich zu Haus. Dieses kleine Stück Erde gehörte Rorik Valois, seinen Kindern und Kindeskindern. Wenn er es einmal zurückerobert hatte, würde er es fest in den Händen halten und, wenn nötig, mit seinem Leben verteidigen. Solange er lebte, schwor er sich, würde die Burg kein Mensch je wieder der Familie von Valois entreißen können.
Brix war stark und wehrhaft – von Kriegern erbaut, um allem zu widerstehen, was ein Heer gegen eine Festung schleudern konnte. An dem breiten Hang, der von der östlichen Seite tief ins Land reichte, waren Palisaden, Schutzwälle und Gräben der Burgmauer vorgelagert. Gelang es, die äußere Burgmauer und den Zwinger zu erstürmen, mußte noch eine dicke innere Burgmauer und ein weiterer Graben überwunden werden. Gelang auch dies, so war der Zugang zum Bergfried immer noch von dem massiven steinernen Großen Saal versperrt, ein riesiges, vom Bergfried getrenntes Gebäude, das beinahe den ganzen inneren Burghof einnahm und nur einen schmalen Weg zum Bergfried freiließ – ein Weg, der durch einen Turm an der angrenzenden Mauer geschützt war. Konnten schließlich all diese Hindernisse überwunden werden, so gab es noch den Bergfried selbst, der gewiß einer Belagerung von Monaten, wenn nicht Jahren, standhielt. Erst durch Verrat war die Burg ein einziges Mal in seiner ganzen Geschichte erobert worden. Als Rorik nun im Morgendunst die Festungsmauer hinaufblickte, wußte er, er würde den Sieg erringen und wenn er dabei sein Leben ließe.
Roriks Plan war einfach, wirkungsvoll und ekelerregend – ekelerregend besonders für die zwei schlanken Knaben, die sich freiwillig gemeldet hatten, die vom Meer besprühten Felsen der gefährlichen Klippen hinaufzuklettern und den Burgschacht hinter der Küche hinunterzusteigen, der an den Saal des Bergfrieds angrenzte. Obwohl Brix uneinnehmbar wie keine zweite Festung war, dachten die Burginsassen doch nur selten daran, die vertikalen Schächte zu versperren, die von den Toiletten durch die dicken Mauern führten. Denn nur selten dürfte jemand die Burg mit derart wilder Entschlossenheit erobern wollen, um diesen Zugang zur Festung zu wählen.
Doch Rorik wollte es. So hatten sich Miles LeBlanc und sein treuer Timor, beide schlankwüchsig und drahtig gebaut, wie geschaffen, um sich durch den stinkenden Tunnel zu zwängen, mit Begeisterung für diese ungewöhnliche Aufgabe gemeldet. Wenn sie einmal in der Burg drinnen waren, würden sie sich, so gut es ging, unter den Feind mischen. Einer von ihnen würde dann zum Wachtturm an der äußeren Burgmauer gehen, das eiserne Fallgatter öffnen und somit das ungeschützte Holztor den Angreifern überlassen. Der andere würde sich am inneren Burgtor postieren, bereit, die Zugbrücke
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