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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kumpfmüller
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wärst du sonst all die Jahre geblieben. Wie Max möchte sie Dora so bald wie möglich kennenlernen, es gefällt ihr, dass sie kocht, dass sie den Bruder nimmt, wie er ist.
    Döberitz ist ein verschlafenes Kaff, schreibt Dora, es gibt eine Kirche, Sommerfrischler wie sie und Judith, Bauern, auf den Weiden Vieh, geduckte Häuser, eine Handvoll Straßen, weiter weg die Havel, in der man baden kann. Sie klingt fröhlich, das Wetter ist nicht berauschend, aber sie haben viel zu reden, natürlich hat sie von Müritz erzählt, von ihrem großen Glück. Judith ist richtig neidisch gewesen, vor allem weil du ein Schriftsteller bist, deinen Namen hat sie gehört, aber noch nichts gelesen. Sie würde dir gefallen, sie liest von morgens bis abends. Passt Ottla gut auf dich auf? Sie bittet, dass er Ottla grüßt. So wie er von ihr gesprochen hat, hat sie Ottla von Anfang an gemocht. Hast du von Berlin erzählt? Bist du mir gut? Ich habe geträumt von dir, vorhin am Sofa, als ich kurz eingeschlafen bin, du hast sehr schöne Sachen mit mir getan, von denen ich leider nur flüstern kann, lauter schöne Sachen.
    In Deutschland ist der Dollarkurs in drei Tagen von knapp zehn auf dreißig Millionen Mark gestiegen, ein Laib Brot kostet eine Million. Max hat geschrieben, dass er nach Berlin fährt, offenbar hat sich die Sache mit Emmy zugespitzt, aber das kennt der Doktor schon, die Geschichte langweilt ihn, fast findet er sie verdrießlich, und das will er ihm jetzt schreiben, bevor sie sich morgen in einer Woche sehen. Der Vater hat demnächst Geburtstag, deshalb erwägt der Doktor, Schelesen für zwei Tage zu verlassenund ein Stück in Doras Richtung zu fahren, wie er sich einredet, denn was seinen Vater betrifft, hat er seit jeher nur dunkle Gründe. Sein Vater würde wahrscheinlich nicht mal bemerken, dass er eigens für ihn angereist ist. Ottla lacht über ihn. Wolltest du nicht nach Berlin? Glaubst du, er stimmt deinen Plänen zu, wenn du ihm vorher brav zum Geburtstag gratulierst?

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    E R SCHREIBT IHR FAST JEDEN T AG. Judith, die weiter keine Lust zum Lernen hat, sagt, die Einzige, die hier arbeite, sei Dora, die mit dem Antworten kaum nachkommt. Dauernd hat er Fragen , will wissen, was sie anhat, welches Kleid, welche Bluse, wie ihre Nacht war, die Einrichtung des Zimmers, in dem sie schläft, was sie essen, worüber sie sprechen, etwas über die Tropfen auf ihrer Haut, das nasse Haar, wenn sie von einem ihrer Spaziergänge zur Havel zurückkehrt. Meistens sind seine Briefe ruhig und klar. Sie mag es, wenn er über ihre Augen schreibt, ihre Gestalt, wenn er bei ihr verweilt, wenn er sie küsst. In den Nächten zweifelt er, ob er gesund wird, er macht sich Sorgen wegen der angespannten Lage in Berlin, und manchmal wird es ihr dann zu viel, dann braucht sie Abstand, um sich wiederzufassen.
    Erst heute Morgen hat sie ein Experiment mit sich gemacht. Zwei Briefe sind in der Post, aber geöffnet hat sie sie nicht. Sie hat sie zur Seite gelegt und zu sich selbst oder Judith gesagt, nicht jetzt, später, es ist zu viel, Liebster, ich bin wie betrunken, wenn du wüsstest, was deine Briefe mit mir machen. Auch auf ihrem täglichen Spaziergang hat sie die Post nicht mitgenommen. Sie ist nicht richtig glücklich damit, aber genau deshalb hat sie es getan, und auf dem Rückweg zwei Stunden später beginnt sie auf halber Strecke zu laufen und rennt und fliegt, zurück zu den beiden Briefen, zerreißt das Kuvert und beginnt zulesen, hört seine Stimme, als wäre es das erste Mal, nach hundert Jahren zum ersten Mal seine Stimme.
    Wenn Judith länger schläft, geht sie am liebsten durch die niedrigen Zimmer. Dora hat das Haus von Anfang an gemocht. Es gehört einer Tante von Judith, die im Februar gestorben ist, es ist klein und altmodisch, alles riecht nach Holz und nach Tante, die in ihrer Jugend eine Schauspielerin gewesen ist und sich mit Anfang fünfzig in diese Einöde zurückgezogen hat. Es gibt Fotos von ihr, auf denen sie keine zwanzig ist, ein blutjunges Ding, sehr hübsch, fast ein bisschen wie Judith, in der Rolle der Ophelia, wie eine verwaschene Schrift hinten auf den Fotos verrät. In späteren Jahren wurde sie dick, verpasste den richtigen Zeitpunkt für Mann und Kind und wurde um die Jahrhundertwende in Döberitz so etwas wie eine Bäuerin, hatte einige Jahre Vieh, einen Stall mit Hühnern, Gänse, zwei Ziegen, dazu bis zu ihrem Tod einen Keller voll mit eingemachtem Obst und Gemüse, geräuchertem Schinken, Schnaps,

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