Die Herrlichkeit des Lebens
dann kommt gegen Mittag ein Brief, in dem er ihr mitteilt, dass an eine Reise nicht zu denken sei. Erst jetzt spürt sie, wie sehr ihr das Warten zusetzt, sie beginnt zu heulen, nicht sehr lang, weil sie bald merkt, dass sie an ihr Geheule nicht glaubt. Er ist krank, er hat dauernd Temperatur. Berlin erscheine ihm gerade unerreichbar, schreibt er. Hätte ich dich hier bei mir, wäre es ein Katzensprung, aber mit mir allein in der trübseligen Stimmung der letzten Tage ist die Reise des Columbus nichts dagegen. Eine Woche mindestens, ist die Botschaft. Er habe gebettelt wie ein Kind, aber Ottla habe nur immer gesagt: eine Woche.
Manchmal fürchtet sie sich jetzt. Der Gedanke ist ihr nicht angenehm, dass sie ihn kaum kennt, dass sie sich womöglich ineinander täuschen, in den ersten Tagen und Wochen in Berlin, wenn sich herausstellt, dass alles ein großer Irrtum gewesen ist. Wenn sie nicht aufpasst, denkt sie so, irgendwie ungläubig, weil sie nicht sagen kann, woher die kleinmütigen Gedanken kommen, als wären es gar nicht ihre, etwas, das sich langsam in sie hineinschiebt und dann allmählich wieder verschwindet.
Es ist noch einmal Sommer, die allerletzten Tage, schon mit dem neuen Licht, unten an der Badestelle das leuchtende Schilf, die rauschenden Birken. Sie versucht sich zu sagen, dass solche Gedanken normal sind. Auch Judith sagt, dass sie normal sind. Er ist vierzig, er hat fünfzehn Jahre länger gelebt als sie. Er sei ein unglücklicher Mensch, hat er auf der Landungsbrücke gesagt. Sie erinnert sich genau, wie sie sich gewundert hat, da er doch glücklich war, vom ersten Moment an, als ich dich in der Küche sah.
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E IN PAAR T AGE GLAUBT ER NICHT DARAN, als müsse er den Glauben verlieren, und erst dann wäre alles möglich. Er hat an Max geschrieben und an Robert, es gebe eine kleine Gewichtszunahme, über Dora kein Wort, dafür wiederum nur sehr vage über die Berliner Aussichten, im ersten Rausch des Heimes habe er sie wohl überschätzt.
Die größte Freude sind ihm jetzt die Kinder, die kleine Helene auf seinem Schoß beim Frühstück, wenn er sie im Garten herumträgt und mit ihr redet, immer die gleichen Sätze, was für ein feines Mädchen sie doch ist, aber müde ist das kleine Mädchen, deshalb muss es bald schlafen. Ottla sieht erschöpft aus, verliert manchmal die Geduld, wenn die zweijährige Vera auf ihre Rechte pocht, deshalb kümmert er sich öfter um Vera, die bereits spricht, von heute auf morgen, wie ihm vorkommt, als seien die Worte seit Langem in ihr vorhanden gewesen, und jetzt, in diesem späten Sommer, würden sie nach und nach freigelassen. Der Doktor versteht nicht viel von Kindern, er hat zu wenig Umgang mit ihnen, obwohl Ottla behauptet, dass ihn Kinder lieben, vielleicht, weil er selbst eine Art Kind geblieben ist.
Um die Mittagszeit ist er mit Ottla und den Kindern schwimmen gegangen, es ist unerträglich heiß, an die dreißig Grad. Erstmals seit Wochen hat er keine Temperatur, deshalb geht er sofort ins Wasser, schwimmt auchrichtig lang, Bahn für Bahn mit dem klaren Bewusstsein, dass es das war, als würde er das Schwimmbad nie wiedersehen, als wäre es das letzte Mal, dass er schwimmt.
Ottlas Mann Pepo ist selten da. Meist kommt er nur übers Wochenende, erstaunt, dass das sein Leben sein soll, dass er zwei Töchter hat, eine junge Frau, die in den Nächten kaum schläft und für jede Stunde dankbar ist, die er in ihrer Nähe ist. Diesmal bleibt er nur für eine Nacht, schimpft lange auf die Kanzlei, wobei man seinen Tiraden anmerkt, dass die Kanzlei sein Fluchtpunkt ist. Er begrüßt die Kinder, hat einen zerstreuten Kuss für Ottla, ein Nicken für den Doktor, streicht der kleinen Helene durchs Haar, fragt nach Vera, die bei seiner Ankunft gleich weggelaufen ist. Und das also soll sein Leben sein? Man sieht ihm an, dass er es nicht glaubt. Ottla ist mehr oder weniger blind dafür, sie bedauert ihn, springt immer wieder auf und bringt ihm etwas, versucht ihm zu berichten, Helene hat gestern mehrmals gelächelt und dann, um vier Uhr morgens, ohne Grund zwei Stunden gebrüllt.
O weh, sagt Pepo, dessen Nacht ebenfalls kurz gewesen ist, bis halb eins hat er über Papieren gesessen. Ich bin gar nicht da, sagt er, als Ottla weg ist, um die Kinder zu wickeln, außerdem hasse er das hier, das Land, die Stille, die verdammten Wespen. Viel zu sagen haben sie sich nicht, vielleicht, weil Pepo ahnt, dass der Doktor ihn durchschaut, nicht ohne Sympathie, als wäre
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