Die Herrlichkeit des Lebens
dem Schwager ein Unglück zugestoßen, das ihn unter anderen Umständen selbst hätte treffen können.
Der Doktor weiß, dass er nie eigene Kinder haben wird. In den Jahren mit F. hat er wieder und wieder darüber nachgedacht und sich dagegen entschieden. Oder hat das Leben für ihn entschieden? Ich schreibe oder habe Frau undKinder, hat er gedacht; man bleibt für sich oder man führt ein Leben wie der Vater oder die Schwestern. Zeugungsfähig wäre er gewesen. Er ist zu einem Arzt gegangen und hat es sich bestätigen lassen, daran hat es nicht gelegen. Es lag an seiner Angst, dass er die richtige Frau nicht fand, dass er die Frauen erst lockte und dann vertrieb, indem er ihnen Angst vor seiner Angst machte und sie verdächtigte, sie würden ihn am Schreiben hindern. Dabei schreibt er schon lange nicht mehr, seit vielen Wochen nicht, von den Briefen an Dora abgesehen, ein paar Nachrichten an die Freunde, die ihm immer ferner rücken.
Ihre Schrift wird kleiner. Mitunter kann er sie kaum lesen, als würde sie im fahrenden Wagen schreiben oder spätnachts ohne Licht, im Dunkeln, wenn sie vor Sehnsucht stumpf ist. Sie kann nicht mehr, schreibt sie. Ich sollte dir das nicht sagen, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr lange kann. Ich werde hässlich ohne dich, ich streite mich mit Judith, die ungeduldig wird, weil ich so fahrig bin, so ohne dich. Ich stolpere die ganze Zeit, schneide mich mit dem Messer, weiß deinen Namen nicht mehr, deinen Geburtstag, deine Küsse. Bitte komm, schreibt sie.
Der Doktor sitzt allein im Garten und findet ihre Klage verständlich. Sie hat jedes Recht dazu, vielleicht nicht nur das Recht, sondern die Pflicht. Es ist auch eine Mahnung, ein Rufen, das ihn daran erinnert, dass das Wunder nicht unverletzlich ist.
In zwei Tagen will er fahren. Auch Ottla will nicht länger bleiben. Pepo ist in der Stadt, will sie aber abholen, dann fahren alle zusammen.
Wegen der Eltern rät ihm Ottla zu einer halben Lüge. Sie sitzen draußen im Garten, es ist nicht sonderlich warm, aber die halbe Stunde, während die Kinder schlafen, haben sie. Er soll sagen, für ein paar Tage, nur mit kleinem Gepäck, dann nehmen sie es vielleicht hin. Freust du dich? Sie findet nicht, dass er so aussieht. Er fürchtet sich. Er freut und er fürchtet sich, vor allem vor der Stadt, der er sich nicht gewachsen fühlt, in dieser Krise. Er weiß Doras Gesichtszüge nicht mehr genau, ihre Nase. Ihren Mund weiß er, ihren Blick, von ferne ihre Stimme, wenn sie sagt, sie sei fast verrückt geworden, es hat mich fast umgebracht, und dabei weiß ich nicht mal, wo dieses verdammte Schelesen genau liegt.
Zum vierten Mal in diesem Sommer packt er. Wäre das Reisen nicht, würde ihm das Packen nicht viel ausmachen. Selbst das Reisen wäre nicht der Rede wert, aber diesmal ist es nicht irgendeine Reise, diesmal entscheidet sich sein Leben.
Der Doktor weiß, dass er bis zur letzten Sekunde zweifeln wird, in der Nacht, bevor er in den Zug steigt, ein wenig stumpfsinnig, weil er kaum geschlafen haben wird und bis zum Morgen das Absagetelegramm an die Berliner Vermieterin verfasst und wieder verwirft. Er kann sich alles vorstellen, den Blick der Mutter, das Kopfschütteln des Vaters. Trotzdem wird er am Morgen aufstehen und sie verlassen. Er wird seine Sachen nehmen und gehen, auf Fragen und Bedenken nicht antworten und zum Bahnhof fahren. Nur weil er die Kämpfe sehen kann, wird er sie am Ende hoffentlich gewinnen.
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12
A M F LUSS UNTER DEN B ÄUMEN ist es bereits herbstlich kühl. Ohne Jacke würde sie frösteln, dennoch hat es sie noch einmal hierhergezogen, allein, ohne Judith, die von morgens bis abends lernt und vom nächsten Sommer träumt, wenn sie sich hoffentlich alle hier treffen, Dora mit dem Doktor und Judith mit wer weiß wem, vielleicht hat sie bis dahin ja einen Mann, bei dem sie bleibt.
Eine Weile steht Dora nur da und denkt an ihn, fühlt in der Tasche ihres Rockes seinen letzten Brief, das Telegramm, in dem tatsächlich steht, dass er kommt. Es ist später Vormittag, wahrscheinlich sitzt er längst im Zug, allein in einem Abteil, obwohl er geschrieben hat, dass er mit Ottla fährt. Mehr denkt sie nicht. Die Hauptsache ist, er fährt. Sie merkt, wie sie sich zu freuen beginnt, auf eine neue, nachdenkliche Weise, wie nach einer knapp bestandenen Prüfung. Die letzten Tage hat sie ihn kaum gespürt, aber jetzt ist er wieder nah. In der Nacht hat sie geträumt, dass er mit dem Zug verunglückt ist. Sie hat
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