Die Herrlichkeit des Lebens
Judith, ich glaube, ich vermiss dich schon, selbst wenn der Zug erst morgen Nachmittag geht. Abfahrts- und Ankunftszeit stehen in einem Telegramm, das am Mittag gekommen ist. Ich treffe mich mit Max, steht da, und hole dich um 18 Uhr 42 ab. Im ersten Moment hat sie gedacht, warum so spät, aber jetzt ist sie fast froh, dass sie sich am Abend treffen, sie werden erschrecken, sie werden sich fragen, ob sie noch sind, was sie in Müritz gewesen sind.
Als sie in den Bahnhof einfahren, hat sie Hans vergessen. Die Fahrt ist noch ziemlich schnell, man erkennt nicht viel, aber dann, als der Zug abbremst, sieht sie die ersten Schemen, zwei, drei Gepäckwagen, Paare, Männer, die sich nach Koffern bücken, ein Kind auf den Schultern seines Vaters. Sie sitzen im hinteren Drittel, deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sie ihn nicht gleich findet, sie bleibt auch völlig ruhig, wartet an der Tür, bis die Leute vor ihr ausgestiegen sind, steht endlich auf dem Bahnsteig und sieht ihn immer noch nicht. Auf Hans achtet sie nicht weiter. Sie wendet sich nach links zum Ausgang, und erst jetzt entdeckt sie ihn, ziemlich weit weg, auf den ersten Blick noch schmaler, nicht ganz fremd. Sie winkt, und jetzt winkt er zurück, lächelt, stutzt, geht ihr ein paar Schritte entgegen. Stutzt er wirklich? Nein, das ist erstspäter und doch fast im selben Augenblick, als sie vor ihm steht und nicht weiß, wie sie ihn begrüßen soll, ihn nicht richtig berührt, nur kurz mit ihrem Kopf seine Schulter. Wartest du schon lange? Er schüttelt den Kopf, der Zug sei auf die Minute pünktlich, und in diesem Moment nimmt er wahr, dass sie in Begleitung ist. Hans hat das Gepäck auf den Bahnsteig gestellt. Das ist Hans, sagt sie ohne Blick für Hans und möchte am liebsten hinzufügen, dass es ohne Bedeutung ist. Hans ist nur irgendein Hans, ein Freund, nicht mal das, jemand, der sie begleitet hat. Herr Doktor, sagt Hans, sehr erfreut. Er gibt ihm die Hand, zur Begrüßung wie zum Abschied, denn kaum hat er den Doktor begrüßt, dreht er sich um und ist fort in Richtung S-Bahn.
Sie könnte nicht sagen, was sie erwartet hat. Franz, sagt sie. Lass dich anschauen, erwidert er, er nickt, da also wären wir. Sie fühlt sich ziemlich wackelig, aber jetzt umarmt er sie, mitten auf dem Bahnsteig, während sich rechts und links die letzten Passagiere Richtung Ausgang schieben. Endlich, sagt er, wir nehmen einen Wagen. Im Wagen sagt er noch einmal, endlich, lass dich anschauen, als würde er sich plötzlich erinnern, auch zu seinem Zimmer sagt er etwas, es sei sehr schön, aber er fürchte, es werde ihn ruinieren.
Dora kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt mit einem Wagen gefahren ist. Sie müssen einige Minuten warten, aber dann sind sie unterwegs, der Fahrer verflucht sich, dass er den Weg über den Potsdamer Platz genommen hat, flucht die halbe Potsdamer Straße, bis der Verkehr allmählich nachlässt. Die ersten Villen mit Gärten tauchen auf, sie erreichen Friedenau, vorne das Rathaus Steglitz ist zu sehen, dann sind sie da. Dora hat die ganze Zeit seine Hand gehalten. Sagen kann sie nicht viel, außerdem sind jetzt andere dran, ihre Hände, die leise pochenden Adern. Ihre Finger reden. Lasst euch Zeit. Das ist das Beglückendste, dass sie endlich Zeit haben, sie braucht fürs Erste nur seine Hand. Sind sie schon da? Sie hat gar nicht gemerkt, dass er das Haustor aufgeschlossen hat, auch auf die Straße hat sie kaum geachtet, und jetzt stehen sie da vor dieser Tür.
Sie hat beinahe vergessen, wie das geht, aber jetzt flüstern sie. Er schließt die Wohnung für sie auf, und das erste, was sie sieht, ist ein kurzer dunkler Flur. Aber mehr als diesen Flur braucht sie nicht, wie oft hat sie von diesem Moment geträumt. Ich bin da, flüstert sie. Du, sagt sie. Zuletzt sei es fast unerträglich gewesen, aber jetzt nicht mehr.
Damit sie sich gewöhnt, fasst sie erst mal alles an: die scheußlichen Vorhänge, die Kissen auf dem Sofa, die Möbel, lange das Klavier, das dieser Tage leider abgeholt wird. Sie begutachtet Ofen und Schrank, sitzt an seinem Schreibtisch. Sie steht in der Küche und macht den Wasserhahn auf und zu. Das habe ich gestern nicht bemerkt, sagt sie, hier, schau, sogar einen Nussknacker gibt es, Töpfe, Pfannen, alles, was das Herz begehrt.
Sie haben gestern eine Ewigkeit in diesem komischen Flur gestanden, als wäre das seit Wochen ihr Ziel gewesen, sie und er im Mantel, auf diesen paar Quadratmetern. Den halben Abend hat sie gedacht:
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