Die Herrlichkeit des Lebens
nach ihm gesucht, am Rande einer Böschung, wo verschiedene leblose Gestalten lagen, unter Decken, als würden sie frieren, aber unter diesen Gestalten war er nicht.
Sie sitzt in der Küche am Fenster und stellt sich vor, wie er es ihnen sagt, die Begrüßung, wie sie ihn mustern. Wenn sie ihn lieben, denkt sie, müssen sie erraten, dass er sie verlassen wird, am Abend, wenn sie am Tisch sitzen,wenn er anfängt, sie zu belügen. Wäre sie bei ihm, wäre alles viel leichter, denkt sie. Oder wäre es dann im Gegenteil viel schwieriger?
Judith sagt: Mein Gott, er ist vierzig, sie werden es überleben. Hast du nicht gesagt, dass er vierzig ist?
Es ist ihr vorletzter Abend, Judith hat eine Flasche Wein besorgt und wirkt abgespannt. Sie hat unterschätzt, wie viel Stoff sie durcharbeiten muss, außerdem möchte sie Dora am liebsten nicht gehen lassen und redet weiter vom nächsten Sommer, auch in Berlin müssen sie sich sehen, falls dein Doktor dich lässt. Wirst du mit ihm leben? Von Anfang an? Darüber haben sie merkwürdigerweise nicht gesprochen, Dora weiß es nicht, sie haben nur ein Zimmer, außerdem ist es vielleicht schwierig, mit einem Menschen so auf engem Raum Tag für Tag, wenngleich sie nichts lieber möchte als das.
In der Nacht auf Sonntag kann sie kaum schlafen. Mal sieht sie das Telegramm, mit dem er ihr absagt, mal hat sie nicht den geringsten Zweifel. Geldsorgen hat sie leider auch. Judith hat gesagt, die Fahrkarte übernehme selbstverständlich sie, sei nicht komisch, es ist nur Geld, und Geld haben ihre Eltern wie Heu.
Am Morgen beim Frühstück meint sie zu wissen, dass er auf dem Weg nach Berlin ist. Er hat angekündigt, sich zu melden, sobald er da ist, irgendwann am Abend. Judith muss sie dauernd ermahnen. Hab Geduld, sagt sie. Es wird Abend, es dämmert, von einer Nachricht keine Spur. Warum rufst du ihn nicht an? Daran hat Dora nicht gedacht. Sie könnte ihn anrufen, es gibt eine Telefonnummer, Hans hat sie ihr vor Wochen geschickt. Nur ein paar Sätze, dann wäre sie beruhigt.
Leider hat er ihr gesagt, wie sehr er Telefone hasst.
Auf die Einzelheiten käme es nicht an, sie müsste nurseine Stimme hören, seinen Atem, weit weg, am anderen Ende der Leitung, irgendein Sirren, das ihr sagt, dass sie verbunden sind, die bloße Tatsache, dass.
Am vorletzten Tag steht auf einmal Hans vor der Tür. Dora ist gerade hinten im Garten beim Wäschehängen, deshalb bemerkt sie ihn nicht gleich, erst als sie sich kurz bückt und jemand in der Wiese stehen sieht. Es ist tatsächlich Hans, der vor Tagen geschrieben hat, dass er sie abholen will, und weil sie nie geantwortet hat, ist er einfach gekommen. Hans? Na gut, sagt sie. Warte. Ich bin gleich fertig. Er macht ein betrübtes Gesicht, beobachtet, wie sie ein letztes Paar Strümpfe hängt; er trägt eine fleckige Hose und ein nicht sehr sauberes Hemd.
Dora weiß sofort, dass sie sich jetzt erklären muss, dass er sie abholt, um über die alten Berliner Sachen zu reden, doch hier im Garten möchte sie damit nicht anfangen. Sie schlägt einen kleinen Spaziergang vor, führt ihn an der Kirche vorbei Richtung Fluss, in eine Gegend, die sie selbst nicht kennt. Hans sagt nicht viel. Er trottet neben ihr her, will wissen, wie es ihr geht, hat auch nichts dagegen, als sie vorschlägt, sich zu setzen, am Ufer auf einen Baumstamm, wo sie endlich reden, nicht sehr lang, beinahe wie ein Paar, als wäre sie ihm das schuldig. Sie dankt ihm für das Zimmer, auch der Doktor sei ihm sehr dankbar, seit gestern ist er in Berlin. Sie erklärt in etwa, was geschehen ist, dass es ihr leid tue, das und das sei der Plan, sicher habe er das meiste längst erraten. Du willst mit ihm leben, sagt Hans, worauf sie antwortet: Ich wünsche es mir. Denn er ist mir sehr wichtig.
Als sie zurück sind, ist es früher Abend. Hans hat ihr lange von seiner Arbeit am Hafen erzählt, die zwar nur vorübergehend ist, aber besser als nichts. Er hilft beim Löschen der Ladung, schleppt schwere Kisten, Säcke undFässer. Wenn er abends seinen Lohn empfängt, muss er sich beeilen, damit er für das Geld noch etwas bekommt, denn am nächsten Morgen ist es wertloses Papier. Auch beim Essen reden sie lange über Berlin, Judith hat zum Abschied alle möglichen Sachen gekauft, es wird nach zwei.
Das also war unser Sommer, sagt Judith und fasst zusammen, was über den dummen, armen Hans zu sagen ist, der unten auf dem Sofa schläft und zuletzt doch ziemlich betrunken gewesen ist. Ja, schade, sagt
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