Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
lag so still da, dass sie sich einen Moment fragte, ob er tot war. Dann bemerkte sie eine ganz leichte Bewegung seiner Brust, die sich unter der abgetragenen Kleidung hob und senkte. Sein Hemd schien nur aus Flicken, Nähten und Flecken zu bestehen; es sah aus, als wäre es seit Monaten nicht mehr gewaschen worden. Nicht einmal die Menschen, die in den Hütten bei Albekizans Palast gelebt hatten, hatten solche Fetzen getragen. Darüber hinaus stank Bitterholz; er roch nach Schweiß, Straßenstaub und getrocknetem Blut. Sie hielt den Atem an, während sie die Hand ausstreckte, um den schlafenden Drachentöter zu wecken. Als ihre Hand noch einen Zoll von seiner Schulter entfernt war, sagte er leise: »Ich bin wach.«
»Gut«, flüsterte sie. »Wir müssen reden.«
Er blieb weiterhin vollkommen reglos liegen, hielt die Augen geschlossen. Er seufzte; auch sein Atem roch schlecht. Dann brummte er: »Sag, was du zu sagen hast.«
»Ich will wissen, was mit Euch nicht stimmt. Vor vierundzwanzig Stunden wart Ihr noch der kaltblütige Drachentöter. Jetzt schlurft Ihr den ganzen Tag mit leeren Augen durch die Gegend und seht halb tot aus. Spielt Ihr das nur? Wartet Ihr einfach nur auf den richtigen Moment zum Zuschlagen? Denn wenn dem so ist, möchte ich Euch helfen.«
Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Du solltest etwas schlafen.«
»Um mich auf die Schlacht vorzubereiten?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Ihr wollt also wirklich kämpfen.«
»Ich will morgen so weit marschieren, wie die Drachen es uns befehlen«, erklärte Bitterholz.
»Das klingt gar nicht nach Euch«, sagte sie.
Er drehte sich zu ihr um und öffnete die Augen. Sein Blick heftete sich auf sie. »Du kannst nicht über mich urteilen«, sagte er. »Vor langer Zeit hat man mir beigebracht, dass das Größte, was ein Mann tun könnte, darin besteht, sein Leben für einen anderen herzugeben. Ich habe gelernt, dass ich, wenn ich geschlagen werde, auch die andere Wange hinhalten soll. Wenn irgendjemand mir etwas tut oder sich gegen mich versündigt, sollte ich lieben und vergeben. Liebe und Vergebung waren die größten Tugenden. Ich habe diese Lügen beinahe ein Jahrzehnt geglaubt.«
»Warum sind Liebe und Vergebung Lügen?«, fragte sie, sich der Ironie bewusst, während sie das sagte. Sie hatte sicherlich keinerlei Absicht, Vendevorex zu vergeben oder ihn jemals wieder zu lieben.
»Ich habe gelernt, dass es einen Gott gibt, der uns so
sehr geliebt hat, dass er seinen eigenen Sohn als Opfer darbrachte. Stell dir nur diese Dummheit vor … dein Leben zu opfern, um andere zu erlösen.«
»Es klingt für mich sehr edelmütig«, sagte sie.
»Das dachte ich damals auch. Dann habe ich erfahren, dass der Mann, der mir diese Dinge beigebracht hat, nicht das war, was ich dachte, dass er es wäre. Ich habe ihn getroffen, als ich jung war; ich habe ihn beinahe als meinen Vater gesehen. Du kannst nicht wissen, wie sehr mich dieser Verrat verletzt hat.«
Jandra nickte. »Ich habe vielleicht eine Ahnung.«
»Nach diesem Verrat habe ich geschworen, nie wieder schwach zu sein. Es würde keine Liebe geben. Es würde kein Vergeben geben. Ich würde meine andere Wange nicht mehr hinhalten, wenn ich geschlagen werde. Ich würde jeden Schlag mit doppelter Kraft zurückzahlen. Ich würde niemals wieder lieben. Ich würde niemals wieder Gnade zeigen.«
»Aber Ihr habt Euch selbst gestellt, um die Dorfbewohner zu retten. Ihr habt immer noch eine gute Seite.«
»Ich habe immer noch eine schwache Seite«, sagte Bitterholz. »Ich hatte einmal … ich hatte einmal Kinder. Zwei Töchter. Einen ganz kleinen Sohn. In der Nacht vor dem Angriff bin ich Zeeky begegnet. Sie hat mich an meine eigenen lang verlorenen Töchter erinnert. In jeder anderen Nacht hätte Kansts Schachzug mich nicht erreichen können. Aber ich konnte Zeekys Stimme nicht aus meinem Kopf bekommen. Am Ende hat dieser noch verbliebene Faden an Mitgefühl mich zerstört. Ich habe mich den Drachen gestellt, um andere zu retten.«
»So, wie man es Euch beigebracht hatte«, sagte sie.
Er nickte. »Aber mein Opfer war umsonst. Ich bin zurückgewiesen worden. Die Drachen hätten mich erschlagen und auch die Dorfbewohner getötet.«
»Wenn Pet nicht eingeschritten wäre.«
Bitterholz schwieg. Er schloss die Augen und drehte sich wieder auf die Seite.
»Er hat sich selbstlos hingegeben«, flüsterte er schließlich. »Die Dorfbewohner sind verschont worden. Und jetzt frage ich mich: Waren die Lügen
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