Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
zurück«, sagte Vendevorex. »Ich habe eine sehr wichtige Aufgabe für dich, und du wirst nicht weggehen, ehe du sie nicht erledigt hast.«
Jandra schluckte hart und nickte.
»Seid nicht gemein zu ihr, bitte«, sagte Mary ruhig. »Sie ist nur zu einem kleinen Besuch hergekommen.«
Vendevorex beachtete sie nicht weiter. Er packte Jandra am Handgelenk und zog sie weg.
»Es ist ein gefährlicher Tag, um sich mir zu widersetzen, Jandra«, murrte er. »Ich kann ein Gerücht bestätigen: Bodiel ist tot.«
»Dann hat Cron …?«
»Nicht Cron. Bitterholz.«
»A-aber Bitterholz ist nur ein Mythos, hast du gesagt. Ein Butzemann, den die Drachen benutzen, um ihre Kinder zu ängstigen.«
»Vielleicht gibt es doch einen Mann hinter dem Mythos«, sagte Vendevorex. »Mit etwas Glück präsentiert Zanzeroth Bitterholz’ Leiche gerade in diesem Augenblick im Ratszimmer, und damit ist diese Angelegenheit erledigt.«
Als sie den Rand der Barackenstadt erreichten, ließ Vendevorex Jandras Arm los. Sie rieb sich die Stelle.
»Geh zurück in unsere Gemächer. Geh zum dritten Bücherregal, zu den Biologietexten. Weißt du, welche ich meine? «
»Ich glaube, ja.«
»Da ist ein Buch, das sich mit den alchemistischen Eigenschaften von Meeresweichtieren beschäftigt. Verlasse die Gemächer erst, wenn du es auswendig gelernt hast.«
»Was? Wieso?«
»Es wird eine Prüfung geben«, sagte Vendevorex.
»Aber …«
»Geh!«, sagte Vendevorex. »Der Zeitpunkt ist von wesentlicher Bedeutung.«
»Kommst du nicht mit?«
»Nein«, antwortete Vendevorex. »Ich werde im Ratszimmer benötigt. Ich brauche ein paar Momente, um mich auf einen dramatischen Auftritt vorzubereiten.«
Kapitel Vier
Flucht
D as Ratszimmer war so groß wie eine Kathedrale; sein hohes Dach wurde von weißen Säulen gestützt. Die gewölbten Fenster öffneten sich zu breiten Balkonen, von denen aus man einen Blick auf das Königreich werfen konnte. Wandteppiche mit Szenen von Albekizans unvergleichlicher Herrschaft bedeckten die Wände. Auf einem von ihnen stand ein jugendlicher Albekizan triumphierend neben der Leiche seines Vaters. Dicht daneben war Albekizan in seiner goldenen zeremoniellen Rüstung zu sehen, wie er seine Armeen zum Sieg gegen die kannibalistischen Drachen der einst berüchtigten Trübinseln führte. Wenngleich allerdings die Wandteppiche mit ihren leuchtenden Farben die Blicke auf sich zogen, war doch der atemberaubendste Gegenstand der glänzende Marmorboden mit den darin eingearbeiteten farbenfrohen Steinen und kostbaren Metallen, die eine detailreich gestaltete Karte der Welt darstellten. Hier also standen Zanzeroth, Metron und Kanst und warteten auf den König.
Zanzeroth war schlecht gelaunt. Er hockte in der Mitte
der Weltkarte; sein Bauch berührte die Stelle, an der der Palast stand. Er musterte die Karte mit dem verbliebenen Auge und fand in den zerrissenen Konturen etwas von der Seele des Königs wieder. Denn die Karte, das wusste er, war eine Lüge. Sie zeigte die Welt als eine schmale Sichel von eintausend Meilen Länge und – an ihrer dicksten Stelle – ein paar hundert Meilen Breite, alles umgeben von Ozeanen. Sie zeigte, um es unverblümt zu sagen, die ganze Welt, die Albekizan erobert hatte, und das war nicht die ganze Welt, die es gab. Im Laufe der Jahrzehnte hatte Albekizan den Mythos gestärkt, dass es jenseits des Königreiches keine anderen Länder gab, abgesehen von ein paar verstreuten Inseln. Aber Zanzeroth war alt genug, um sich daran zu erinnern, dass er in seiner Jugend etwas anderes erfahren hatte.
In seinen jüngeren Jahren war er weit gereist. Es gab ein Königreich nördlich der Geistlande, ein riesiges Land aus Eis, das von Drachen und Menschen bewohnt wurde. Und jenseits der Berge im Westen hatte Zanzeroth einen riesigen Kontinent erkundet: ein Land, das aus gewaltigen Flüssen und unwegbaren Wüsten bestand, endlosen Wäldern und unpassierbaren Bergen. Eine dritte Gruppe von geflügelten Drachen hatte diese wilden Lande zu ihrer Heimat erkoren, Drachen, die so groß waren, dass sie die Sonnendrachen als Zwerge betrachteten, so wie die wahre Welt den kleinen Splitter Erde in den Schatten stellte, über den Albekizan herrschte.
Ein Ort, über den Albekizan nicht herrschte, existierte für ihn nicht. Viele Jahre lang hatte Zanzeroth dies für eine harmlose Marotte des Königs gehalten. Jetzt fragte er sich,
ob die Blindheit des Königs gegenüber der Wirklichkeit sie möglicherweise alle in den Abgrund
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