Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
sehen, nur eine dünne, blasse Linie aus blauen Schuppen, die etwas frischer waren als die anderen.
»Ja«, sagte er ausdruckslos. »Ich meine damit stehlen.«
»Aber …«
Vendevorex hob die Klaue in einer Geste des Schweigens an den Mund.
Die ablehnende Bewegung brachte Jandra dazu, den Kiefer wieder zu schließen. Sie verstand natürlich die Gefahr, in der sie sich befanden. Aber wie immer störte sie die Art und Weise, in der die Drachen mit dem Eigentum der Menschen umgingen. »Die Leute brauchen …«
»Diese Leute sind alle tot«, sagte Vendevorex. »Du hast das Gemetzel im Hof gesehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Soldaten des Königs hierherkommen. Albekizan hat vor, auch den letzten Menschen in seinem Königreich zu töten. Diese Leute hier müssen sich um Wichtigeres Gedanken machen als ein fehlendes Boot.«
Jandra bekam kaum Luft. Sie hatte gedacht, dass der König sich mit der Tötung der Palastangestellten zufriedengeben würde.
»Hast du … willst du damit sagen, dass …« Sie konnte es kaum denken, geschweige denn aussprechen.
»Auch den letzten Menschen«, sagte Vendevorex.
»Wir müssen ihn aufhalten!«, rief Jandra. »Wir müssen zurück!«
»Wir würden in den sicheren Tod gehen. Wir sind nur
entkommen, weil ich so rasch gehandelt habe. Wir hatten das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Ich habe mich unsichtbar gemacht, nicht unverletzlich. Du von allen Leuten müsstest wissen, wie sehr meine Magie auf Illusionen beruht. In einer direkten, gewalttätigen Auseinandersetzung mit Albekizan könnte ich ihn möglicherweise besiegen, aber was dann? Wenn ich ihn töte, werden wir in Anarchie abgleiten oder, noch schlimmer, unter die Herrschaft irgendeines Narren wie Kanst geraten. Ich sehe im Augenblick keine andere Möglichkeit, als zu fliehen.«
»A-aber du bist sein Berater. Du kannst doch dem König Vernunft einreden, oder?«
»Albekizans Vorstellung von Vernunft führte dazu, dass er dich in eine Zelle einsperren wollte, um mich dazu zu zwingen, ihm zu helfen. Ich habe mich ihm widersetzt, Jandra, um deinetwillen. Ich werde nicht unser Leben wegwerfen, indem ich jetzt zum Palast zurückkehre.«
»Und was dann? Sollen wir in aller Ruhe zusehen, wie die Menschen abgeschlachtet werden?«
Vendevorex schüttelte langsam den Kopf. »Ich … ich brauche Zeit zum Nachdenken. Lass mich ein Boot besorgen. Es gibt vielleicht Verbündete, an die wir uns wenden können. Albekizans Entscheidung, die Rasse der Menschen auszulöschen, wird bei anderen Sonnendrachen Widerstand hervorrufen, da bin ich sicher.«
»Wir könnten zumindest die Leute von Richmond warnen«, sagte Jandra. »Verschaffe ihnen Zeit zur Flucht.«
»Wir werden nichts dergleichen tun«, entgegnete Vendevorex. »Wir dürfen keine Hinweise darauf hinterlassen, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben. Ich bin sicher, dass
Albekizans Soldaten nach uns suchen. Schlimmer noch, er hat uns möglicherweise Zanzeroth hinterhergeschickt. Wir dürfen nicht nachlässig sein.«
»Ich kann das nicht glauben«, sagte Jandra. Sie dachte an die Schreie im Hof. Sie erinnerte sich an das nasse Geräusch, mit dem die Axt nach unten gesaust war. Vielleicht war Vendevorex damit zufrieden, diese Leute sterben zu lassen, aber sie würde da nicht mitspielen.
Ohne ein weiteres Wort lief sie los. Vendevorex versuchte sie festzuhalten, aber sie entglitt seinem Griff und stürzte von den Bäumen weg, rannte zu den Kais.
»Lauft!«, rief sie. »Lauft! Albekizan will euch töten!«
Statt wegzulaufen, blickten die an den Kais arbeitenden Menschen einfach nur verwirrt auf. Während sie näher kam und ihre Rufe drängender wurden, tauchten mehr Leute aus den Gebäuden auf, um nachzusehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte.
Sie erreichte einen graubärtigen Mann, der bei einem Boot stand und ein Seil einholte.
»Beruhige dich, Mädchen«, sagte der Mann. Seine Augen blinzelten verwirrt in dem ledrigen, wettergegerbten Gesicht. »Was ist los?«
»Ihr seid alle in schrecklicher Gefahr«, erklärte sie. »Ihr müsst weglaufen. Albekizan hat vor, euch alle zu töten.«
Der alte Mann kicherte. »Ist das wahr?«
Mehr Menschen kamen herbei.
»Was ist los?«, rief ein junger Mann.
»Dieses Mädchen behauptet, der König hätte vor, uns zu töten!«, sagte der alte Mann. Er klang eindeutig erheitert.
»Er ist bereits sehr erfolgreich darin«, rief ein anderer. »Mir nimmt er die Hälfte meines Lohns als Steuern weg. Die üble alte Bestie lässt
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