Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
dem so wäre, würde ich dann noch leben? Ihr hättet mich getötet, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich bin enttäuscht, nicht zum ersten Mal heute Nacht. Ich vermute, Ihr seid letztendlich doch unschuldig.«
»Ihr solltet eigentlich wissen, dass ich kein Mörder bin«, sagte Shandrazel.
»Aber ich hatte Hoffnung«, erwiderte Zanzeroth mit einem Seufzen. »Die Hoffnung, Ihr könntet ein Intrigant
sein, ein Täuscher, ein Betrüger und Mörder. Ich hatte die Hoffnung, Ihr hättet doch noch all das, was nötig ist.«
»Was nötig ist?«
»Um zurückzukehren«, sagte Zanzeroth. Seine Gelenke knackten leicht, als er sich auf den Bauch rollte und auf alle viere mühte, um dann den langen Nacken zu dehnen und geschmeidiger zu machen. »Ich hatte gehofft, Ihr würdet Eure Pflicht tun und Albekizan töten.«
»Ihr seid sein ältester Freund«, sagte Shandrazel. »Wie könnt Ihr Euch so etwas wünschen?«
»Wie sieht die Zukunft für Euch aus? Ist es eine Welt, in der Euer Vater zunehmend älter und schwächer wird, bis der Tod sich ihn im Schlaf holt? Das ist keine ehrenhafte Weise zu sterben. Während seines Niedergangs würde das Königreich schrumpfen. Ein liebender Sohn würde ihm die Halsschlagader durchtrennen, solange er das Leben noch genießt.«
»Eine Welt, in der alte Drachen im Schlaf sterben können, erschreckt mich nicht«, sagte Shandrazel.
Zanzeroth erhob sich, hielt dabei die Augen auf Shandrazel geheftet. Shandrazel spannte die Muskeln an, während Zanzeroth nach einem Beutel griff, der tief an seiner Hüfte hing. Die alten, trockenen Schuppen des Jägers klangen wie raschelndes Papier, als er sich bewegte. Er band die Schnallen des Lederbeutels los und holte zwei runde, rote Dinger von der Größe von Melonen heraus. Er warf sie Shandrazel vor die Füße.
Es waren Menschenköpfe, deren blutlose weiße Gesichter in scharfem Kontrast zu den blutvertrockneten Haaren und den braun verkrusteten Stümpfen ihrer Hälse standen.
»Cron«, sagte Zanzeroth. »Und Tulk.«
Shandrazel vermutete, dass das stimmte. Die Gesichter waren im Tod zu verzerrt, um sie noch erkennen zu können.
»Hattet Ihr gedacht, ihnen das Leben retten zu können, indem Ihr sie nicht jagt?«, fragte Zanzeroth.
Shandrazel zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht viel über ihr letztendliches Schicksal nachgedacht. Aber ja, ein Teil von mir hat gehofft, dass sie in der Verwirrung vergessen werden würden.«
Zanzeroth senkte seinen Blick nach unten zu den abgetrennten Köpfen. Er schien an Kraft zu gewinnen, während er deren Anblick in sich einsaugte. »Genießt Ihr den Anblick toter Menschen, Shandrazel?«
»Natürlich nicht«, sagte Shandrazel. »Was ist das für eine Frage?«
»Vielleicht nicht so sehr eine Frage als vielmehr eine Warnung. Euer Vater plant, die gesamte Menschheit zu töten. Er will Monumente aus ihren Knochen errichten. Auf den Feldern werden sich Pyramiden mit menschlichen Totenschädeln erheben. Die Spezies Mensch wird ausgerottet werden.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Shandrazel.
»Die Schönheit der Wahrheit besteht darin, dass der Glaube keine Rolle dabei spielt, ob es geschieht oder nicht.«
»Wieso sollte Vater so etwas tun?«, wollte Shandrazel wissen.
»Ist das wichtig?«, fragte Zanzeroth. »Von meinem Standpunkt aus ist das einzig Wichtige, dass es niemanden gibt, der ihn aufhalten kann … niemanden außer vielleicht einem neuen König.«
»Ihr seid gekommen, um mich zu überreden«, sagte Shandrazel.
»Nehmt meine Worte als das, was Ihr in ihnen sehen wollt«, sagte Zanzeroth, wandte sich ab und humpelte in die Schatten davon. »Entschuldigt mich jetzt.«
Als Zanzeroth deutlich außer Sichtweite von Shandrazel war, ließ er sich gegen einen Baum sinken. Sein Kopf pochte von dem Schlag, den Shandrazel ihm versetzt hatte. Sein gesamter Körper war betäubt und voller Prellungen. Sein linkes Bein spürte er kaum noch. Es gab keinen Zweifel. Wenn Shandrazel Rückgrat entwickelte, würde er einen beeindruckenden Gegner für seinen Vater darstellen. Vielleicht rettete die irregeleitete Zuneigung des Prinzen zu den Menschen sie am Ende doch noch.
Nicht, dass Zanzeroth sich etwas aus den Menschen machte, ganz und gar nicht. Aber irgendwo unter ihnen war der Mann, der ihm das Auge genommen hatte. Wenn der König seine Idee umsetzte, die ganze Spezies umzubringen, würde Bitterholz oder der Mann, der vorgab, es zu sein, möglicherweise für ihn verloren sein. Sollte der König die
Weitere Kostenlose Bücher