Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
zu hundert in der Unterzahl war. In den aufgerissenen, furchtsamen Augen der anderen Drachen konnte Shandrazel sehen, dass jeder von ihnen sich fragte, ob er derjenige sein würde, der von seinen mächtigen Kiefern zerfetzt werden würde. Ihre Furcht erzeugte Wut in seiner Seele. War dies die Art und Weise, wie man einen Mitschüler behandelte?
Dann strömte Scham die Wut hinweg, wie eine Flut. Was tat er? War er bereit, gegen jeden der Schüler zu kämpfen, sie allesamt auszulöschen? Wenn er es auch nicht war, so wusste er doch, dass sein Vater es sein würde. Chapelion hatte recht, wie immer. Shandrazel hatte diese Schüler verraten, indem er hergekommen war.
»Jeder, der versucht mir zu folgen, ist tot«, knurrte er, dann breitete er die Flügel aus und eilte zum Springbrunnen zurück. Er sprang auf den Rand und schlug die Schwingen mit aller Kraft, um sich in die Lüfte zu erheben.
Der Wind, den er dabei erzeugte, riss einen der kleineren Himmelsdrachen von den Beinen. Er glitt über die Menge, stieg langsam höher, kletterte mit Mühe zwischen den Türmen nach oben. Seine Flügel fühlten sich an wie Blei; er war zweihundert Meilen weit geflogen, um hierherzugelangen.
Zweihundert Meilen, um am Anfang einer Reise zu stehen, deren Ende er nicht erkennen konnte.
Nebel bedeckte das mondbeschienene Tal, als Jandra vom Fenster des Blockhauses aus nach draußen sah. Vendevorex schlief; die kühleren Temperaturen der Berge, in denen sie in diesen letzten zwei Wochen Zuflucht gefunden hatten, schienen eine unaussprechliche Müdigkeit in ihrem Mentor zu bewirken. In den Stunden, in denen Vendevorex nicht schlief, unternahm er geheimnisvolle Ausflüge ins Tal, um sich mit jemandem zu treffen, ohne dass er ihr sagen wollte, weshalb.
Jandras Welt war auf die vier Holzwände der Hütte und einen Kreis von einhundert Schritten zusammengeschrumpft, den sie nach Feuerholz abgesucht hatte. Sie langweilte sich. Sie hätte nur zu gern ein Buch über die Anatomie von Weichtieren verschlungen, hätte sie denn eines zur Hand gehabt; sie hätte sogar die Vorbemerkungen und die Fußnoten gelesen.
Sie ging wieder zu Vendevorex, der in einer der Ecken lag. Er hatte sich auf einer Wolldecke zusammengerollt und mit einer Decke aus Stofffetzen zugedeckt. Seine Brust hob sich leicht, während er schlief.
Ein kleines Feuer schwelte noch in der Feuerstelle, aber
es verströmte nur wenig Wärme. Ein Eisentopf hing an einem Haken über dem Feuer; darin befanden sich die Überreste eines Eintopfes aus Eichhörnchen und einige Kartoffeln, die Vendevorex aus dem Keller eines Bauern geschmuggelt hatte. Sie aßen jetzt seit drei Tagen an diesem Eintopf. Jandra konnte nicht umhin, sich an das Festessen zu erinnern, das am Abend vor dem Wettbewerb im Palast stattgefunden hatte. Sie dachte an die Tische, die beladen mit gebratenem Fleisch und frisch geerntetem Gemüse gewesen waren, mit knusprigem, mit Weißmehl bestreutem Brot. Sie konnte noch immer die gegrillte Forelle schmecken, die sie in dieser Nacht gegessen hatte; zum Nachtisch hatte es frische Erdbeeren in Sirup gegeben.
Sie seufzte, versuchte, nicht daran zu denken. Als sie in den mondbeschienenen Nebel sah, wurde ihr plötzlich kalt. Um die Kälte zu bekämpfen, legte sie sich neben Vendevorex, ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken und zog die Decke auch über ihren Körper. Die Decke roch muffig. Sie war in der Hütte gewesen, die sie gefunden hatten; es war unmöglich zu sagen, wie alt sie war. Die Wolldecke unter ihr war rau und kratzig.
Neben Vendevorex zu liegen holte Bruchstücke ihrer Vergangenheit hervor. Als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatte er sie in den Armen gewiegt. Sein moschusartiger, reptilienhafter Geruch hatte ihr das Gefühl gegeben, dass die Welt in Ordnung war. Sie hatte keine Erinnerungen an ihre Eltern, an die Zeit vor Vendevorex. Er hatte ihr gesagt, dass sie in einem Feuer gestorben wären und nur sie überlebt hätte. Sie hatte gefragt, ob es noch überlebende Verwandte geben könnte, irgendeinen entfernten Vetter
oder eine Kusine vielleicht, aber Vendevorex hatte behauptet, dass jede Suche in dieser Richtung umsonst sein würde. Ihre tote Familie hatte aus Einwanderern bestanden, die gekommen waren, um Albekizan bei der Ernte zu helfen. Niemand wusste, woher sie gekommen waren. Jandra hatte keine Ahnung, wie ihr Geburtsname lautete.
Und meistens hatte es keine Rolle gespielt. Jetzt, da sie auf der Flucht waren, ohne Zuhause, dachte sie
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