Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
der vor zehn Jahrhunderten gestorben ist. Darin liegt keine Logik. Vater, du rühmst dich, dass du die ganze Welt erobert hast. Wohin genau soll ich also fliehen?«
»Shandrazel«, sagte Albekizan, »wenn du nicht jetzt sofort fliehst, töte ich dich auf der Stelle.«
Shandrazel sah Albekizan in die Augen. Albekizan stählte
sich, ließ keinen Hinweis auf Bedauern in seinen Gesichtszügen aufkommen. In Shandrazels Augen konnte er Verwirrung sehen. Scham wallte in Albekizans Seele auf. Wie konnte seine königliche Blutslinie einen derart schwachen, wenig verheißungsvollen Kandidaten für den Thron hervorbringen?
»Aber …«, sagte Shandrazel.
»Geh!«, rief Albekizan und machte einen Satz nach vorn. Wenn Shandrazel nicht ging, wusste Albekizan, würde er seine Zähne in die Kehle seines Sohnes graben, auch wenn er damit sämtliche Gesetze und Traditionen brechen sollte.
Shandrazel trat zurück, warf einen letzten Blick auf seine schluchzende Mutter, dann drehte er sich um und öffnete die Schwingen dem Nachthimmel entgegen. Nach wenigen Augenblicken war er nur noch ein dunkler Schatten vor den Sternen. Sternschnuppen begannen wie Tränen vom Himmel zu fallen.
Albekizan trat neben Tanthia.
»Entfacht den Scheiterhaufen«, sagte Metron.
Der Chor von Himmelsdrachen erhob sich, als die Hitze der Fackel das Anfachholz berührte. Das Feuer fraß hungrig, erhob sich rasch von dem aufgestapelten Holz und leckte an den Blumen, die Bodiel umgaben. Der Rauch nahm schon bald den beißenden Geruch von brennenden Schuppen an.
Metron öffnete das alte, ledergebundene Buch in seinen Händen. Er sah kein einziges Mal auf den Text, als er die Worte sprach, die in dem Buch von Theranzathax standen.
»Asrafel kroch auf ein Bett aus trockenen Zweigen, goss Öl auf seine fiebrige Stirn und rief nach seinen Kindern.
Und er sprach: ›Im Winter atmen wir Dampf, denn im Innern sind wir Flamme. Das Fieber, das in mir brennt, ist die Flamme meines eigenen Lebens, und nicht länger soll die Haut zwischen der Welt und mir stehen. Solange diese Flamme brennt, bin ich am Leben, werde ich als Rauch unter euch sein. Ihr werdet mich atmen, und ich werde ein Teil von euch sein, und wenn ich eure Augen berühre, werdet ihr weinen, aber nicht vor Kummer, sondern vor Freude, denn ich werde noch immer bei euch sein.‹
Während er sprach, begann das Öl auf seiner Stirn zu qualmen, und dann brach die Flamme aus ihm heraus und loderte hell in der Nacht. Seine Kinder entzündeten Fackeln mit dieser Flamme und nährten sie für immer, nutzten das Licht Asrafels, um die Welt der Dunkelheit zu entreißen. «
Metron schloss das Buch und näherte sich dem Leuchtfeuer, das jetzt vor Leben fauchte. Er legte eine noch nicht entfachte Fackel mit der Spitze in die Flammen, und als er sie wieder zurückzog, brannte sie mit dem Wesen Bodiels. Metron drehte sich um und sah Tanthia an.
»Nehmt diese Flamme, und lasst sie niemals sterben. Möge die Liebe Eures Sohnes heiß und strahlend lodern.«
Tanthia bewegte ihren Mund, als würde sie sprechen, aber die Worte waren bei dem Gebrüll des Feuers nicht zu verstehen. Sie nahm die Fackel und hielt sie fest in den Händen.
Die ganze Zeit sah Albekizan auf das Feuer, beobachtete, wie Funken davon aufstoben und sich mit den Sternen vermischten. Während jeder einzelne dieser winzigen roten Punkte in der Dunkelheit verschwand, durchlebte
er den Verlust seines Sohnes erneut. Er starrte wieder auf das Feuer, fühlte sich eins mit der wütenden Flamme. Die Feuersbrunst zischte und knisterte und brüllte, und der Lärm war in Albekizans Seele Musik. Im Glauben der Flamme erscheint der Himmel, wenn die ganze Welt zu Asche geworden ist.
Kapitel Sieben
Pläne
S handrazel stieg hinauf in die sternenübersäte Nacht; er konnte kaum glauben, dass sein Leben eine solche Wendung genommen hatte. Hinter ihm sang der Chor, während der Scheiterhaufen entfacht wurde. Es brach ihm das Herz, dass man ihm nicht gestattete, um seinen Bruder zu trauern.
Besonders schwer fiel es ihm zu akzeptieren, dass er vorgewarnt worden war; er hatte immer gewusst, dass ein solcher Augenblick irgendwann kommen würde. Seit er ausgeschlüpft war, hatte man ihm die Zeremonie der Nachfolge beigebracht. Er hatte im Laufe der Jahre die Dramen miterlebt, als seine Brüder einer nach dem anderen verschwanden, weil sie entweder aus dem Königreich verbannt oder beschämt in die Bibliotheken der Biologen geschickt wurden. Wieso hatte er nie
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