Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
Sonnendrache bequem nach draußen sehen konnte. Sie jedoch erreichte nur mit Mühe die Unterkante des Fensters, wenn sie sprang. Sie war daran gewöhnt, mit Möbeln
und Räumen zu tun zu haben, die für Wesen gedacht waren, die doppelt so groß waren wie sie selbst. Ein Vorteil war, dass sie deswegen eine gute Springerin und großartige Kletterin geworden war. Sie zog sich in das Fenster, das das höchste in der Burg war, und blickte über das umgebende Ackerland. Das Mondlicht raubte der Nacht jede Farbe, aber sie konnte dennoch den breiten Fluss und – in weiter Ferne – den langen Kamm der Gebirge sehen, die das fruchtbare Tal begrenzten.
Die Häuser direkt unterhalb von ihr wirkten idyllisch. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, in einem so normalen Haus aufgewachsen zu sein und nicht in einem Burgturm. Sie wusste, dass Ruth und Mary sie für verrückt gehalten hätten. Sie hätten alles gegeben, um ein Stück ihres privilegierten und angenehmen Lebens zu erhaschen. Aber heute Nacht wäre sie lieber in einem dieser kleinen Bauernhöfe gewesen als hier in der Behausung von Drachen.
Während sie im Fenster saß und die kühle Nachtluft mit ihren Haaren spielte, erinnerte sie sich an den letzten Flug mit Vendevorex. Es kam ihr so natürlich vor, über die Erde zu schweben. Es war nicht gerecht, dass Menschen für immer an die Erde gebunden waren. Wenn sie selbst fliegen könnte, würde sie niemals den Boden berühren.
»Eine schöne Nacht, hübsche Jandra. Umso schöner durch deine Gegenwart.«
Jandra blickte sich um. Pet stand hinter ihr auf den Stufen, die zum Turmzimmer führten. Er trug noch immer die Kleidung, die er beim Essen angehabt hatte: eine schwarze Hose und Stiefel, ein grünes Seidenhemd, das zu seinen Augen passte, und eine Halskette aus Gold und Smaragden.
Sie vermisste ihre alte Garderobe, all die kunstvollen Kopfbedeckungen und Kleider, die jetzt für immer verloren waren, wie sie vermutete. Da sie nur mit dem geflohen war, was sie am Leib getragen hatte, hatte Vendevorex seine Fähigkeiten benutzt, um eine schlichte Baumwollbluse und einen Rock für sie zu machen. Sie waren schön gearbeitet und passten gut zu ihr, aber verglichen mit Pet hätte sie auch in Sackleinen herumlaufen können.
»Du siehst traurig aus«, sagte Pet. »Quält dich etwas?«
»Es ist nichts«, antwortete sie. Sie bemerkte die Leichtigkeit, mit der er die Gefühle auf ihrem Gesicht gedeutet hatte. Wieso konnte Vendevorex ihre Gefühle nicht so verstehen wie dieser Fremde? »Ich wollte mir nur den Mond ansehen.«
»Dann störe ich dich nicht?«, fragte Pet.
»Dies ist dein Zuhause«, sagte sie und wandte das Gesicht wieder ab. »Ich vermute, du kannst dich aufhalten, wo immer du willst.«
»Du siehst aus, als wenn du gern allein wärst«, sagte Pet. »Ich bin nicht gern dort, wo ich nicht erwünscht bin. Wenn du möchtest, dass ich weggehe, werde ich das tun.«
»Danke«, erwiderte Jandra.
»Aber bevor ich gehe«, sagte Pet, »möchte ich, dass du weißt, dass ich verstehe.«
»Was verstehe?«
»Deinen Kummer. Deine Einsamkeit«, sagte er mit seiner beruhigenden, wohlklingenden Stimme. »Manchmal, wenn wir den größten Wunsch danach haben, allein zu sein, ist es genau der Augenblick, in dem wir die Anwesenheit von anderen begrüßen sollten.«
Jandra vermutete, dass er die Worte weise fand. Aber auf sie wirkten sie wie unerbetene Ratschläge. Sie hatte durch Vendevorex genug davon. »Du nimmst dir viel heraus, Pet.«
»Tue ich das? Ich habe einen Hauch des Aufruhrs in deiner Seele erhascht. Er ist in deinen Augen zu sehen. Du bist ganz allein. Ich weiß, dass dein Herr das nicht versteht. Das kann er nicht.«
Jandra runzelte die Stirn. »Vendevorex ist nicht mein Herr. Er ist mein … Lehrer.«
»Aber er ist kein Mensch. Er wird deine Bedürfnisse niemals nachempfinden können.«
Jandra veränderte ihre Position im Fenster, drehte ihm jetzt ganz den Rücken zu. »Ich dachte, du hättest gesagt, dass du gehen wolltest.«
»Du hast mich nicht wirklich aufgefordert zu gehen. Ich glaube, ich weiß warum.«
»Ja?«
»Du hast das Mondlicht angesehen, und es verfolgt dich. Du bist ein Mensch, der unter Drachen lebt. Du wirst niemals gleichberechtigt sein bei den Drachen, aber du wirst dich auch bei den Menschen nicht zu Hause fühlen.«
Jandra wollte ihn nicht wissen lassen, wie recht er hatte. Sie blieb still, starrte in die Nacht hinaus. Ihr Blick heftete sich auf die am weitesten entfernten Felder, und
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