Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
etwas erregte ihre Aufmerksamkeit, eine große Masse, die sich den Fluss entlangbewegte. Eine Viehherde möglicherweise. Kam Vieh des Nachts heraus? Sie wandte sich von dem Anblick ab und musterte wieder Pet. Seine Augen blickten weiterhin mitten durch sie hindurch. War sie wirklich so durchsichtig?
Sie wollte nicht mit ihm über ihre Gefühle sprechen, also wechselte sie das Thema. »Wie ist dein richtiger Name?«
»Petar Gondwell. Aber Chakthalla zieht es vor, mich Pet zu nennen.«
»Wieso lässt du das zu?«
»Wieso nicht? Es macht sie glücklich.«
»Aber willst du nicht deine eigene Identität haben? Willst du nicht haben, was dich glücklich macht?«
»Chakthalla glücklich zu machen macht mich glücklich.«
Jandra spürte Unbehagen, als sie das hörte; sie dachte daran, wie sehr sie es genoss, Vendevorex zufriedenzustellen, wenn sie ihre Übungen gut hinbekam.
»Du magst es nicht, dass ich Chakthallas Schätzchen bin«, sagte er nüchtern. »Es bringt dich dazu, dir über dein eigenes Verhältnis zu Vendevorex Gedanken zu machen.«
Er ist sehr einfühlsam, dachte Jandra.
»Dir gefällt die Vorstellung nicht, dass Leute der Besitz von Drachen sind«, sprach Pet weiter. »Du willst deine Freiheit.«
»Ich habe meine Freiheit«, sagte Jandra. »Vendevorex besitzt mich nicht. Er ist nur mein … Mentor. Meine Eltern sind gestorben, als ihr Haus abgebrannt ist. Er hat mich aufgezogen, aber er besitzt mich nicht.«
»Ah. Wenn du frei bist, kannst du seinen Dienst also jederzeit verlassen.«
»Das vermute ich. Aber …«
»Aber?«
»Ich wüsste nicht, wohin ich gehen sollte.«
»Ah.« Pet nickte. »Das ist ein Problem, nicht wahr? Er
hat dich durch die Unwissenheit über die Welt gebunden. Dies fesselt dich weit wirkungsvoller als Eisen.«
Jandra dachte daran, wie Vendevorex ihr enthüllt hatte, dass sich jenseits der Gebirge weitere Länder befanden. Hatte er sie im Dunkeln gelassen, um ihre Möglichkeiten einzuschränken? Wer wusste, was jenseits der Berge lag? Vielleicht gab es Orte, an denen die Menschen über Drachen herrschten. Das würde sicherlich erklären, warum er nur so zögernd mit ihr darüber gesprochen hatte.
»Ich würde nicht sagen, dass Vendevorex mich gefesselt hat«, erklärte sie. »Aber es stört mich, dass er stets über seine Pläne schweigt. Er verkündet mir immer nur den nächsten Schritt und erwartet, dass ich folge. Er fragt mich nie um meine Meinung.«
»Das ist die Art der Drachen«, sagte Pet. »Sie können die Menschen nicht als gleichberechtigt betrachten. Einen Menschen um Rat zu fragen ist für sie so absurd, wie einen Hund zu fragen, wie das Wetter werden wird.«
Jandra nickte. »Ich muss zugeben, du überraschst mich. Du hast so unterwürfig gegenüber Chakthalla gewirkt. Ich hatte angenommen, du würdest sie an deiner Stelle denken lassen.«
»Sie denkt auch, sie würde für mich denken. In Wahrheit bin nur ich der Herr meines Schicksals, schöne Jandra. Die Menschen werden sehr schlecht behandelt. In den Dörfern kämpfen sie um ihr Überleben. Einige können angenehm leben, aber niemand wird wohlhabend. Die einzigen Menschen, die eine gewisse Macht erringen, sind die Propheten, die nach Überschwemmungen und Seuchen wie Pilze aus dem Boden schießen. Aber was tun Propheten mit ihrer
Macht? Sie führen Krieg gegen Ungläubige im nächsten Dorf, die ihrem eigenen Propheten folgen. Am Ende sind Prophezeiungen nicht sehr nützlich.«
»Nein«, sagte sie. »Ich vermute, das sind sie nicht.«
»Aber unter den Drachen zu leben ist ein ganz anderes Schicksal«, sagte Pet. »Als Liebling eines Drachen werde ich mit Juwelen überschüttet. Ich schlafe auf Laken aus Seide, ich trinke aus goldenen Bechern. Alles, was Chakthalla als Gegenleistung dafür will, sind ein paar Tricks und ein mitfühlendes Ohr.«
»Es klingt verlockend, wenn du es so darstellst«, sagte Jandra. »Und dennoch, ein Schätzchen zu sein … hast du keinen Stolz?«
»Ich beziehe Stolz aus einer gut ausgeführten Aufgabe«, erwiderte Pet mit einer leichten Verbeugung. »Ich bin ein Schauspieler, ein Sänger, ein Akrobat, ein Dichter: ein Meister in verschiedenen Künsten und Talenten. Ich sehe Chakthalla als eine Art Mäzenin.«
»Aber Chakthalla besitzt dich«, sagte Jandra. »Du hast keine Freiheit.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ein meiner Meinung nach deutlich überschätztes Gut. Will ich die Freiheit haben, arm zu sein? Will ich die Freiheit haben, jeden Tag ums Überleben zu
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