Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
als wäre er durch zu viele Erdbeben zerstört worden.
Neben dem Hügel stand jemand, den Graxen sofort als Charkon erkannte, obwohl sie sich nie begegnet waren. Charkon war alt für einen Erddrachen, beinahe achtzig. Erddrachen bekamen im Alter sogar noch festere Muskeln, und Charkons Arme und Beine waren so dick wie Baumstämme. Aber es war sein Gesicht, an dem Graxen ihn erkannte. Charkon war ein Veteran aus den Tagen der Rebellion im Süden, und irgendwann musste sein Gesicht sich am falschen Ende einer Streitaxt befunden haben. Ein großes, gezacktes Stück seines linken Schnabels fehlte, und wo sein Auge gewesen war, war jetzt nur noch eine hässliche Knolle aus Narbengewebe. Dennoch, trotz Charkons üblem Gesicht, strahlte eine wilde Intelligenz in dem verbleibenden Auge, und er stand mit einer so edlen Haltung da, wie sie für einen Erddrachen kaum möglich schien.
Charkon nickte Graxen zu und winkte ihn zu sich heran.
»Du bist Graxen der Graue«, sagte Charkon. Er schrie über den Gesang der Menge hinweg. »Ich hatte mit dir gerechnet.«
»Shandrazel hat mich geschickt – «
»Ich weiß«, sagte Charkon. »Er möchte, dass ich zum Palast komme. Ich werde mich morgen auf den Weg machen. Die Drachen von Drachenschmiede dienen den Sonnendrachen seit Jahrhunderten. Es wird mir eine Ehre sein, mich mit Shandrazel beraten zu dürfen.«
»Oh«, sagte Graxen und beugte sich näher, um bei dem ohrenbetäubenden Lärm besser hören zu können. »Ich wurde hier gar nicht mehr gebraucht, oder?«
»Ich bin so lange am Leben geblieben, weil ich den richtigen Stimmen gelauscht habe«, sagte Charkon. »Du musst dich deshalb nicht schlecht fühlen. Die Sammler versorgen mich immer wieder mit Neuigkeiten. Ich bin gut darin zu erkennen, welche die richtigen sind.«
»Ich verstehe«, rief Graxen zurück. Er warf einen Blick auf den roten Lehmhügel, der jetzt eindeutig bebte. »Was passiert da?«
»Es ist Schlupftag!«, sagte Charkon. »Ich würde mich an deiner Stelle in den Himmel erheben. Und zwar sofort!«
Obwohl Graxen nicht verstand, was da vor sich ging, begriff er sofort, dass er einen Rat erhielt, den er besser befolgte. Er sprang nach oben, stieg mit scharfen, raschen Flügelschlägen in die Luft. Unter sich hörte er etwas knacken, und die Menge brüllte: »Schnell geduckt, sonst verschluckt!«
Er sah hinunter und stellte fest, dass der Hügel sich in eine Wolke aus rotem Staub aufgelöst hatte. Zehntausende mausgroße Erddrachen strömten aus dem bröckelnden Lehm. Obwohl sie wie Schildkröten aussahen, hüpften und schossen diese Schlüpflinge mit der Geschwindigkeit von Kaninchen umher und zischten in alle möglichen Richtungen davon. Sofort stürzten die Erddrachen vor und fielen auf alle viere, während sie auf die hüpfenden Kreaturen einschlugen und jene, die sie zu packen bekamen, in ihren Schnabel schoben.
Charkons fleischige Klauen griffen zu und packten drei der kleinen Wesen, dann legte er den Kopf zurück und öffnete seinen entstellten Schnabel. Er ließ die winzigen Drachen über seinem Maul baumeln, fing die Stummelschwänze mit den Zähnen ein, bevor er die Viecher eines nach dem anderen die Speiseröhre hinunterschickte.
Trotz der gedrängten Körper – oder vielleicht auch gerade deshalb – entkamen viele der Schlüpflinge zwischen den Beinen der anwesenden Drachen, oder sie sprangen über die Menge, von Kopf zu Kopf, bevor sie in den Lücken der Mauern nahe stehender Gebäude verschwanden oder sich in die Kohlebehälter verzogen, die sich neben der Gießerei befanden.
Graxen war nicht völlig unvertraut mit der Biologie der Erddrachen. Er wusste, dass sie im Gegensatz zu den geflügelten Drachen Eier legten und ihre Jungen in gemeinschaftlichen Hügeln reifen ließen. Er hatte auch gehört, dass sie unbarmherzig waren, wenn es darum ging, die schwächeren frisch geschlüpften auszusortieren. Er hatte nur nicht erwartet, dass sie dabei so leidenschaftlich vorgingen.
Graxen stieg durch den Rauch der Gießerei höher und suchte nach der Schmiedestraße, die ihn zurück zu Shandrazels Palast bringen würde. Dann flog er von Drachenschmiede weg, begierig darauf, die üble Luft und die brutalen Einwohner hinter sich zu lassen, und erst recht begierig darauf, außer Reichweite des verfluchten Liedes zu kommen. Dennoch war es das zweite Mal an diesem Tag, dass er eine Nachricht überbracht und dafür weder Essen, Trinken noch Unterkunft angeboten bekommen hatte. Bote des Königs zu
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