Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
zurückkehren und den Verlauf der Gespräche erneut stören. Auf diese Weise kann sie die Sache monatelang verzögern, wenn nicht sogar jahrelang.«
»Wieso?«, fragte Graxen. »Wieso sollte sie sich Shandrazels Reformen entgegenstellen?«
»Die Matriarchin hat ein Interesse daran, den gegenwärtigen Zustand zu erhalten. Zorasta wird radikale Veränderungen der Weltordnung nicht zulassen.«
»Wie seltsam«, sagte Graxen. »Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach Veränderung gesehnt. Es kümmert mich ehrlich gesagt nicht, wie die Konsequenzen sein werden, wenn Shandrazel mit seiner Gestaltung einer neuen Regierungsform erfolgreich ist. Ich begrüße einfach nur einen neuen Morgen, von dem ich weiß, dass er anders sein wird als der Tag zuvor. Ich begrüße eine Welt, in der nichts wahrhaft ewig ist.«
Nadala schlug die Flügel aneinander und hüpfte zu der Mauer, auf der Graxen stand, auch wenn sie noch Abstand hielt. »Würdest du das wirklich begrüßen?«, fragte sie. »Eine Welt, in der nichts von Dauer sein kann?«
»Einige Dinge müssen von Dauer sein, vermute ich«, sagte er. »Die Sonne wird weiter bis in alle Ewigkeit aufgehen und untergehen, der Mond wird ewig zwischen den Sternen sein und zunehmen und abnehmen. In zehntausend Jahren, von jetzt an gerechnet, werden die Wellen des Ozeans immer noch gegen den Sand schlagen, und Grillen werden in Sommernächten zirpen. Aber ich werde nicht mehr hier sein, um diese Dinge zu erleben, und die Bücher der Biologen werden längst zu Staub zerfallen sein. Wir leben bereits in einer Welt, in der nichts von Dauer ist; etwas anderes zu glauben würde bedeuten, sich bewusst an eine offensichtliche Unwahrheit zu halten.«
»Oh«, sagte Nadala. »In dir schlummert ein Dichter. Das sind die Worte, die du in deinen Briefen schreiben solltest.«
»Wären Betrachtungen über die Unbeständigkeit unseres Lebens nicht ein etwas niederschmetterndes Thema für einen Liebesbrief?«, fragte Graxen.
»Oh«, sagte sie, während sie den Kopf schräg legte und ihn neckisch ansah. »Sind es jetzt Liebesbriefe?«
Graxen war zu müde, um sich verunsichern zu lassen. Das Wort war ihm entschlüpft; es war unsinnig, etwas anderes zu behaupten.
»Es ist Liebe, seit ich dich das erste Mal gesehen habe«, sagte er und sah sie direkt an.
»Du lügst«, sagte sie und hüpfte näher. »Als du mich das erste Mal gesehen hast, hast du dich gefragt, ob ich dich töten würde.«
»Stimmt«, sagte er und hielt ihrem Blick stand. Seine Erschöpfung und ihre Anwesenheit führten dazu, dass er sich leicht trunken fühlte. Worte, die er sich früher noch nicht einmal hätte vorstellen können, strömten jetzt einfach so aus ihm heraus. »Aber ich habe von dem Moment an Liebe empfunden, als du mir nachgeflogen bist, um mir meine Tasche wiederzugeben. Deine Freundlichkeit war mehr, als ich erwartet oder verdient hatte. Die Güte deiner Tat hat die Welt zu einem hoffnungsvolleren Ort gemacht.«
»Dann ist es gut, dass ich mein Ziel verfehlt habe, als ich versucht habe, dich aufzuspießen.«
»Wenn du mich getötet hättest, hättest du nur deine Pflicht getan.«
»Wenn meine Schwestern mich hier bei dir finden, würden sie uns beide töten. Würdest du auch dann noch im Namen der Pflicht vergeben?«
»Ich weiß, dass du ein Risiko eingegangen bist, indem du hergekommen bist«, sagte er. »Dennoch bist du hier. Warum?«
»Weil ich mich auch nach Veränderung sehne«, sagte sie und blickte in die verworrene Dunkelheit im Innern des Turmes. »Was du über die Unbeständigkeit gesagt hast, darüber, dass wir in zehntausend Jahren nicht mehr hier sein werden … diese Worte finden einen Widerhall in mir. Was zählt der Schwur einer Walküre gegenüber der Pflicht noch, wenn die Jahre ihr Andenken weggespült haben werden? Der einzige, dünne Faden der Unsterblichkeit, den es in dieser Welt gibt, ist doch das Zeugen von Nachkommen und die Hoffnung, dass diese
ebenfalls Nachkommen hervorbringen. Vielleicht wird so ein kleines Echo des eigenen Selbst über die Jahrhunderte hinweg überdauern.«
»Ich werde nie Nachkommen hervorbringen«, sagte Graxen. »Vielleicht habe ich deshalb solche Gedanken über die Unbeständigkeit. «
Nadala schlug erneut mit den Flügeln und hüpfte direkt neben ihn. Sie war nah genug bei ihm, dass er sie riechen konnte. Es war ein seifiger Geruch, nach Sandelholz und Rosenwasser. Sie hatte offenbar die Gelegenheit zum Baden genutzt, als sie zum Nest zurückgekehrt
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