Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
ihrer Politik aber wenig nachgedacht. Das hat zu jenem Missverhältnis geführt, das bis heute die Beziehungen zwischen Moskau und der Region belastet.
Die Georgier erlebten Moskaus Vorgehen als Russifizierung: Gleich nach dem Anschluss wurden in ihren Kirchen die Fresken übertüncht und Gottesdienste in georgischer Sprache verboten, Mingrelier gegen Georgier und Georgier gegen Abchasen aufgehetzt – worunter das Land bis heute zu leiden hat. »Heimtückisch« sei Moskaus Politik gewesen, sagt die georgische Schriftstellerin Naira Gelaschwili und zitiert aus einem Brief der russischen Regierung an den Feldherrn Eduard von Totleben: »Der Leib muss georgisch sein, die Seele aber russisch.« Die Russen zeigen sich angesichts solcher Vorwürfe tief beleidigt: Schließlich hätten sie die Georgier seinerzeit vor Persern, Arabern und Türken gerettet, ihr Anschluss ans russische Kaiserreich sei freiwillig erfolgt, und zu Sowjetzeiten hätte Moskau so viel Geld nach Tiflis transferiert, dass die Georgier weit besser als die Russen leben konnten.
Den Russen dankbar sind bis heute allein die Armenier, die jahrhundertelang besonders schwer unter Persern und Türken leiden mussten, bis hin zu den Pogromen am Ende des Osmanischen Reichs. Nachdem Russland die Peiniger vertrieben hatte, gewährte es den Armeniern viel politischen Freiraum. Dabei ging es weniger um Nächstenliebe als um eine Front gegen die Türkei. Aus Sicht der Armenier war die russische Herrschaft im Vergleich zur türkischen das kleinere Übel – so sind sie außer Abchasen und Südosseten die Einzigen im Südkaukasus, die den Russen noch immer einen militärischen Vorposten gewähren: Im armenischen Gjumri ist Moskaus 102. Militärbasis stationiert, nur einen Katzensprung von der türkischen Grenze entfernt.
Dass Russland den Kaukasus nie in den Griff bekommen werde, sahen kluge Männer früh voraus. Der Slawist Friedrich von Bodenstedt aus dem Städtchen Peine östlich von Hannover macht sich 1837 über St. Petersburg und Moskau auf den Weg in den Kaukasus, um später als Lehrer am Gymnasium in Tiflis zu arbeiten. In seinem Werk über die »Völker des Kaukasus« schreibt er 1848: »Die Russen mögen mit ihren Heerscharen alle Länder des Kaukasus überziehen, alle Festungen mögen sie schleifen und mit dem Feuer ihrer Geschütze selbst den Schnee der wolkenüberragenden Gletscher zerschmelzen. Ja, sie mögen der Gebirgsländer ganze Bevölkerung ausrotten mit Weib und Kind – das Kriegsfeuer wird fortlodern durch die Jahrhunderte. Die Bevölkerung des Kaukasus kann gewechselt werden, die von seinen Bergen wehende Freiheitsluft bleibt immer dieselbe.« Es ist eine verblüffende Weitsicht, die Bodenstedt da beweist. Dabei konnte er unmöglich voraussehen, was hundert Jahre später unter Stalin geschieht: die Deportation ganzer Kaukasus-Völker nach Sibirien oder Kasachstan oder – noch mal fünfzig Jahre später – die Feldzüge zweier russischer Präsidenten gegen Tschetschenien. Denen schließlich auch dessen Oberhaupt Dschochar Dudajew zum Opfer fällt – als ihn im April 1996 eine russische Rakete trifft.
Kampfname »Koba«
Auch der junge Stalin kämpfte gegen die russische Vorherrschaft im Kaukasus – später wütete er dort schlimmer als die Zaren.
Von Christian Neef
Mit der Schlagzeile »Bombenregen« erscheint am 27. Juni 1907 die englische Zeitung »Daily Mirror«. Der Titel steht über einem Bericht aus der zu Russland gehörenden georgischen Landeshauptstadt Tiflis, in der Revolutionären am Vortag ein sensationeller Coup gelungen ist: »Rund zehn Bomben, eine nach der anderen, wurden heute in das Menschengedränge auf dem Platz im Stadtzentrum geworfen. Die Bomben explodierten mit schrecklicher Kraft, viele Menschen wurden getötet.« An die 40 Personen sollen gestorben sein. Sie zahlten mit ihrem Leben, weil örtliche Revolutionäre eine Kutsche mit Geldsäcken für die Staatsbank überfielen. Die Beute: mindestens 250000 Rubel, nach heutigen Maßstäben 2,5 Millionen Euro.
Regisseur der blutigen Aktion war der 28-jährige Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der sich fünf Jahre später in »Stalin« umbenennt. Er hat »die Ära des bewaffneten Raubüberfalls eröffnet«, schreibt ein Freund, der mit von der Partie gewesen ist. Von alldem ist in der Broschüre »Stalin. Lehrer, Vorbild und Freund der Jugend« nicht die Rede, die 1949, im Gründungsjahr der DDR, in Ost-Berlin erscheint. »Schon als Achtzehnjähriger trat Stalin
Weitere Kostenlose Bücher