Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
wurde zum Aufmarschplatz, um nach Zentralasien vorzustoßen und am »Großen Spiel« um die Kontrolle Afghanistans und den Zugang nach Indien teilzunehmen. Die Eroberung des Kaukasus durch die Russen ändere die Machtbalance in Europa, schrieben westliche Diplomaten vor 170 Jahren.
Katharina die Große war es, die 1768 den ersten Marschbefehl zum Kaukasusgebirge gab. Es dauerte dann aber fast hundert Jahre, bis Russlands Feldherren ihre Mission erfüllten. Will man ermessen, was sich in diesen Jahren an der Südgrenze des Kaiserreichs tat, sollte man einen Blick in den russischen »Atlas der ethnopolitischen Geschichte des Kaukasus« werfen. Es gibt dort eine Karte, die den Grenzverlauf im Jahre 1774 zeigt: Das Osmanische Reich zieht sich noch bis ins heutige Abchasien hinauf, weiter die Schwarzmeerküste entlang bis zum Kuban und fast bis nach Rostow am Don – die Türken sind zu dieser Zeit nur gut tausend Kilometer von Moskau entfernt. Georgien besteht in seinem westlichen Teil aus diversen Fürstentümern und mehreren kleinen Zarenreichen, der Osten gehört zu Persien, das Ländereien bis hoch ins heutige Dagestan besitzt.
Diese Karte zeigt den Kaukasus noch als Pufferzone zwischen den drei großen Konkurrenten: Osmanen, Persern, Russen. Schon im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts bietet sich ein anderes Bild. Russland hat es in gut 50 Jahren mit List und militärischer Gewalt geschafft, seine Rivalen zurückzudrängen: Es kontrolliert nun fast alle Fürstentümer, Zarenreiche und Khanate zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer – die Grenze des Imperiums verläuft von Batumi bis hinüber in die Gegend von Baku. Iran ist in seinem nördlichen Teil bereits auf sein heutiges Territorium zurückgeworfen. Lediglich Tscherkessien, Tschetschenien und der westliche Teil Dagestans sind noch weiße Flecken – eine Terra incognita für die russischen Zaren.
Geopolitische und strategische Erwägungen trieben Russlands Herrscher bei ihrem Vorstoß in den Kaukasus. Sie wollten die südlichen Grenzen festigen und suchten einen Zugang zu den warmen Meeren. Sie hatten aber auch weitergehende Ambitionen. Katharina die Große hätte sich gern das Osmanische Reich unterworfen, um es anschließend aufzuteilen, und sie wollte den persischen Einfluss zurückdrängen – Ziele, die immer wieder zu Kriegen mit den beiden Nachbarmächten führten. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelangen Regimenter des Zaren ans Schwarze und Kaspische Meer. Sie finden nicht nur bestätigt, dass dort im Süden zahlreiche Bergvölker leben, die sogenannten »gorzy«, sondern auch, dass jenseits des Kaukasuskamms bereits christliche Staaten existieren: das ostgeorgische Königreich Kartli-Kacheti und das westgeorgische Imereti.
Die türkischen Bastionen, die es im Nordkaukasus gibt, fallen in den nächsten Jahrzehnten. Ab 1774 reißt Russland große Gebiete zwischen Kuban und Terek an sich. Jekaterinograd (heute: Krasnodar) und Stawropol kommen dazu. Auch den Persern nehmen sie den größten Teil ihrer kaukasischen Besitzungen mit den Städten Derbent und Baku ab – all das wird 1813 im Frieden von Gulistan festgeschrieben. Die Bezwingung Georgiens, das wie ein Sandwich zwischen den großen Mächten eingeklemmt ist, erweist sich als schwieriger. Sie gelingt schließlich, weil das Land durch persische Feldzüge schwer gelitten hat, allein Tiflis wurde auf 20000 Einwohner dezimiert. Die in ihrer Existenz bedrohten Georgier hoffen auf Hilfe der christlichen Glaubensbrüder aus dem Norden.
1783 akzeptiert der ostgeorgische König Irakli II. , der bis dahin unter persischer Aufsicht stand, einen Schutzvertrag. Russland garantiert ihm und seinen Nachfolgern die Königswürde und verspricht, das Reich vor Eroberern zu bewahren. Als der Vertrag unterzeichnet wird, feuert Irakli in seinem Palast 101 Salven zu Ehren von Zarin Katharina ab. Irakli wird damit zum russischen Vasallen. An ihre Versprechen halten sich die Zaren allerdings nicht: Sie leisten keine militärische Hilfe, als die Perser 1795 nochmals Tiflis überfallen und die Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennen. Alexander I. liquidiert nach dem Tod von Irakli sogar dessen Königreich und erzwingt den Anschluss an Russland – »nicht wegen des Zuwaches an Macht, nicht wegen der Erweiterung der Grenzen«, wie er in seinem Manifest vom 12. September 1801 beteuert, sondern »um jedem in Georgien Rechtsschutz und Sicherheit zu geben«. Doch dass die vermeintlichen Retter zu
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