Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Geheimpolizei, die an Umfang und Macht die Zaren-Ochrana bald in den Schatten stellen wird.
TEIL IV
EXPANSION UND
UNTERGANG
Eckstein des Reiches
In einem nahezu hundertjährigen Krieg
eroberte Russland ab Mitte des 18. Jahrhunderts den
Kaukasus. Befrieden konnte es die Bergregion nie.
Von Christian Neef
F ast klingt es, als hätte der General Mitleid: »Meine lieben Tschetschenen sind ziemlich in die Enge getrieben. Der größte Teil von ihnen lebt in den Wäldern. Im Winter sind Krankheiten ausgebrochen, irgendetwas wie Gelbfieber, es wirkt verheerend. Wegen Futtermangel stirbt das Vieh in großer Zahl. Jetzt werden Einheiten abgestellt, die Schneisen durch die tschetschenischen Gebiete schlagen – und die werden uns bis zu den letzten Schlupflöchern dieser Verbrecher bringen.« Diesen grimmigen Bericht schickt Alexej Jermolow, Generalgouverneur der transkaukasischen Provinzen Russlands und Oberbefehlshaber der dortigen Streitkräfte, 1827 an Zar Nikolai I. Wenn er von »Verbrechern« spricht, meint er damit ein Volk, das sich doch nur gegen die Besetzung seiner angestammten Siedlungsgebiete wehrt. Es ist die Zeit, da Tschetschenen die Georgische Heerstraße über den Kaukasus unsicher machen, während Jermolow die strategischen Pässe für seine Truppen freizuhalten versucht.
Der Mann, der viele Generationen später an einem sonnigen Septembertag den russischen General zitiert, ist klein, er trägt einen schwarzen Schnurrbart, seine Miene spiegelt Trotz und Triumph zugleich. »So haben es die Russen immer mit uns getrieben«, sagt Dschochar Dudajew: »Es ist beispiellos in der Weltgeschichte, dass ein zahlenmäßig kleines Volk so offen, so zynisch durch einen so großen Nachbarstaat terrorisiert wird.« Er meint nicht nur die Zeit Jermolows, sondern die Gegenwart, das Jahr 1994. Dschochar Dudajew, der zu Sowjetzeiten Kommandeur einer in Estland stationierten strategischen Bomberdivision war, ist in diesem Herbst fast drei Jahre Präsident der Tschetschenischen Republik, die im September 1991 ihre Unabhängigkeit ausgerufen hat. 50 Jahre ist er alt, ein kluger, ein tollkühner, ein fanatischer Mann.
Er hat das Zitat aus aktuellem Anlass bemüht. Von Moskau gesteuerte Dudajew-Gegner innerhalb Tschetscheniens versuchen seit Wochen, den Präsidenten zu stürzen – weil der die Aufforderung des russischen Staatschefs Boris Jelzin an die Teilrepubliken des früheren Sowjetrussland allzu wörtlich auffasste. »Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr schlucken könnt!«, hatte Jelzin gesagt, damals, während des Machtkampfes mit seinem Rivalen Michail Gorbatschow, vor vier Jahren war das. Jetzt, da Jelzin selbst im Kreml sitzt, will er davon nichts mehr wissen. An diesem Tag, an dem Dudajew im achten Stock seines mächtigen Präsidentenpalastes in Grosny den SPIEGEL empfängt, ahnt er noch nicht, dass russische Truppen dieses Haus in wenigen Monaten mit ihren Bomben von der Erde tilgen werden.
Dudajew hofft im September noch auf Verhandlungen mit Russland und einen Deal, bei dem die Tschetschenen ihre faktische Unabhängigkeit behalten und dafür künftig im Namen Moskaus die Südgrenze des Reiches sichern werden. Er erzählt von den engen Verbindungen, die es lange Zeit zwischen Tschetschenen und Russen gab, von den über 18000 Landsleuten, die im Krieg gegen Hitler-Deutschland für die Sowjetunion starben, aber auch vom immer wiederkehrenden Verrat, den Russland an den Völkern des Kaukasus begangen habe. Nur wenige Wochen später, im Dezember 1994, gibt Moskau den Befehl zum Sturm auf Grosny – der nächste blutige Krieg am Kaukasus beginnt.
Die bergige Region im Süden Russlands, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, hat nicht nur Präsidenten wie Boris Jelzin oder später Wladimir Putin beschäftigt, sondern lange davor viele der Romanow-Zaren: Peter den Großen, Katharina die Große, Alexander I. wie Alexander II. und auch Nikolai I. Der Kaukasus war ein zentraler Baustein bei der Stärkung ihres Imperiums und beim Versuch, die Herrschaft Moskaus auf immer neue Völker auszuweiten.
Finnland, Kongress-Polen, Bessarabien (heute: Moldau) – das alles verleibten die Zaren ihrer Machtsphäre ein. Der Sieg über die Völker des Kaukasus jedoch war strategisch gesehen der größte Erfolg: Russland nutzte die Schwäche Persiens und der Osmanen, um sich nicht nur die Gegend am Nordrand des Gebirgszuges zu unterwerfen, sondern auch den Transkaukasus: Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Und der wiederum
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